Kategorien
Artikel und Essays

Fünf Tage Jekaterinburg – Ein Reisebericht

Ein paar Worte zur Vorgeschichte

White Cane NGO ist eine in Jekaterinburg ansässige Organisation, welche seit einigen Jahren Veranstaltungen, Kurse und Events zur Integration und Inklusion von Menschen mit Handikap durchführt. Hierzu zählen auch die „International Inclusive Games“, welche einmal im Quartal stattfinden und vor allem junge Leute animieren sollen, sich in sozialen Projekten zu beteiligen.

Die Botschaft, die dabei jedoch auch vermittelt werden soll, ist, dass wir als Menschen mit Handikap unsere Ziele genau so erreichen können, wie andere Menschen auch und wir gleiches zu leisten in der Lage sind.

Teil der „Inclusive Games“ sind auch künstlerische Darbietungen, ob nun von Malern, Fotografen, Musikern oder Tänzern.

Ich hatte mich vor meiner Skandinavien-Reise auf eine Ausschreibung für das im Mai stattfindende „Inclusive Game“ als blinder DJ beworben, denn ich fühlte mich vom Konzept angesprochen und nahm sogleich Kontakt auf. Ich hatte ehrlichgesagt mit einer Absage gerechnet, denn laut Ausschreibung sah es eher danach aus, als würde man „richtige“ Musiker suchen und keinen DJ… Jedoch falsch gedacht! Gerade weil sich die Veranstaltung an junge Menschen richtet, fand man die Idee, die Konzertveranstaltung mit einem DJ abzuschließen, mehr als passend

und so wurde ich von Oleg, dem Organisator des Events, kurzer Hand nach Jekaterinburg eingeladen. Flug, Hotel, Visum und alle weiteren anfallenden Kosten würden vom Verein und den Sponsoren der Veranstaltung getragen werden. Außerdem war ich noch nie in Russland gewesen.

Da ich neben meinem DJ-Auftritt auch die Möglichkeit bekam, mir die Stadt anzuschauen, durfte auch dieses mal der Fotoapparat nicht fehlen! Darum auch hier wieder meine Empfehlung, sich auch die Bilder und vor allem auch die Videos anzuschauen.

 

Tag 1: Von Hamburg nach Jekaterinburg

Montag, 19.05.2014

Und so packte ich, trotz Warnhinweisen, Sorgen, Ängsten, Bedenken von vielen aus meinem Umkreis meine Koffer und machte mich am Montag, 19.05., um 8:54 Uhr mit dem Zug auf dem Weg zum Hannoveraner Flughafen, von hieraus sollte mein Flieger mit einer Russischen Billigfluggesellschaft um 13:05 Uhr starten! Und wem jetzt schon bei den Worten „Russisch“ und „Billigflieger“ beim Lesen die Knie schlottern: Der Flug war besser als ihr Ruf.

In Hannover-Langenhagen angekommen, fragte ich mich zum richtigen Terminal durch, von dem aus mein Flug mit UTair Aviation abheben sollte.

Am Check In angelangt, erkundigte ich mich, nach dem ich mein Gepäck aufgegeben und meinen Pass nebst Visum vorgezeigt hatte, ob ich in Moskau Vnukovo zunächst wieder auschecken müsste oder ob mein Gepäck zum Anschlussflieger nach Jekaterinburg direkt transportiert werden würde? Aus- und Wiedereinchecken lautete die Antwort.

Und auch hier wurde mir, wie ich es auch schon aus Hamburg kannte, Hilfe vom DRK angeboten. Die Dame am Check-In-Schalter orderte eine „Assistenz“, jedoch ohne Rollstuhl – ein Glück! Und auch für Moskau wurde gleich eine Assistenz für den Fliegerwechsel vorgemerkt.

Meine Zeitplanung war recht knapp kalkuliert. Für andere ein Gräuel, ersparte mir dies längere Wartezeiten und so ging es nach „nur“ 30 Minuten weiter zum Gate.

Bei der Sicherheitskontrolle hieß es wieder Pass und Visum vorzeigen, Rucksack, Jacke und Tascheninhalte ab ins Körbchen und ruckzuck durch die Schranke – so einfach ging es dann doch nicht, eine Gürtelschnalle machte quasi einen piepsenden Strich durch die Rechnung. Das war jedoch noch das kleinere Übel, denn nach Durchleuchten meines Rucksacks wollte man sich noch etwas genauer meinen Braille-Computer unter die Lupe nehmen, um ihn auf Sprengstoff zu untersuchen. Dies geschah mittels einer Art kleinen Staubsaugers, mit dem die Oberfläche und Rillen des Geräts abgesaugt wurden. Der aufgefangene Staub wurde dann in einem extra Filter untersucht. Sollte sich Sprengstoff in oder an dem Gerät befinden, würde der Staubfilter Alarm schlagen… Interessant, so etwas mal genauer erklärt und live mitzubekommen. Ich bedankte mich für die Erklärung… und für die gratis Reinigung des Geräts, denn Dank des „Staubsaugers“ befanden sich danach bestimmt keine Staubkörnchen mehr in den kleinen Löchern, aus denen sonst die Blindenschriftpunkte kommen.

Nach der Sicherheitskontrolle blieb noch kurz Zeit, ein gewisses, stilles Örtchen aufzusuchen – wer weiß, in welchem Zustand die selbigen an Bord der Maschine sein würden?

Geflogen bin ich mit einer Boing. Der Flieger nach Moskau war nicht sehr voll gewesen. Zwei Plätze neben mir saß eine ältere Frau, welche während des ca. dreistündigen Fluges einige male dolmetschen musste, denn die Englischkenntnisse des Personals ließen – auf beiden Flügen – teils zu Wünschen übrig. Die Ansagen in beiden Fliegern waren zweisprachig, wobei ich auch hier das Gefühl hatte, als wären die Russischen Durchsagen ausführlicher als die Englischen – der Eindruck mag jedoch auch getäuscht haben.

Meine Sitznachbarin erkundigte sich erneut beim Personal, ob denn auch ja jemand mir beim Transfer zum Anschlussflieger nach Jekaterinburg behilflich sein würde? Sie übersetzte mir sodann, dass mich jemand nach Landung in Vnukovo aus dem Flieger „evakuieren“ würde – wunderbar.

Die Flugzeit nach Moskau nutzte ich, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Um 18:00 Uhr Moskauer Zeit (+2 Std.) landeten wir sanft am Vnukovo Airport, von dem vor allem Inlandsflüge starteten.

Nach der Landung wurde ich von zwei Flughafenmitarbeitern in Empfang genommen und zur Gepäckausgabe begleitet. Wir liefen – die beiden im Gleichschritt – durch einen schier endlosen Gang, welcher – geschätzt – sicherlich 500-750 Meter schnurstracks geradeaus ging. An der Gepäckausgabe angelangt, verabschiedete sich einer meiner Begleiter wortlos.

Trotz des längeren Fußmarsches mussten wir noch eine Weile auf das Gepäck warten, bevor wir weiter in den Abflugbereich ziehen konnten, um für den Flug nach Jekaterinburg einzuchecken. Dieser Flug startete um 20:40 Uhr Moskauer Zeit und so blieb noch ein wenig Zeit, etwas Geld zu tauschen, um mir was zu Essen zu kaufen.

Der Bankmitarbeiter war ein schweigsamer Geselle. Ohne ein Wort nahm er meine 40 Euro entgegen und legte auch, ohne irgendetwas zu sagen, Rubel und die Wechselquittung in die dafür vorgesehene Schalteröffnung. Also wie viel habe ich jetzt bekommen? Es mussten um die 1800 Rubel gewesen sein – nach meiner groben Berechnung, denn 1 Euro entsprach ungefähr 50 Rubel.

Englisch ist in Russland vor allem unter jungen Leuten eher verbreitet. Dies merkte ich bereits schon am Flughafen. Die Verkäuferin an dem kleinen Kiosk, an dem ich ein Sandwich und eine Cola erstand, sprach ebenfalls kein Englisch. Mein Begleiter vom Flughafen musste versuchen, mit seinen ebenfalls eher spärlichen Englischkenntnissen die verschiedenen Sandwiches zu beschreiben. Am Ende gab es ein belegtes, zugeklapptes Weißbrot mit Schinken, eingelegten Gurken und Ketchup – na ja, der Hunger trieb’s rein. Das angebotene Sandwich auf dem Flug nach Moskau hatte ich nicht genommen, ich hatte kaum Hunger und war außerdem müde gewesen.

Nach diesem kulinarischen Hochgenuss saß ich noch ca. eine Stunde im Wartebereich und lauschte den Stimmen, Geräuschen und Gesprächen. Klar, Russisch hatte ich hier in Deutschland schon oft gehört, aber wenn man sich in einem fremden Land befindet, in der ausschließlich diese Sprache gesprochen wird, nimmt man diese doch wieder ganz anders wahr als „Zuhause“.

Um 19:40 Uhr wurde ich wieder eingesammelt und zur Sicherheitskontrolle begleitet. Hier wehte ein leicht anderer Wind als bei uns in Deutschland. Der Rucksack und der Blindenstock landeten auf dem Förderband und wurden durchleuchtet. Die Jacke brauchte ich nicht auszuziehen, dafür griff mir beim Abtasten ein Sicherheitsbeamter in sämtliche Jackentaschen und beförderte binnen weniger Sekunden alle sich darin befundenen Gegenstände zu Tage. So müssen sich sicherlich Leute fühlen, denen man im Getummel Portemonnaie oder Handy aus der Tasche geklaut hat und die im ersten Augenblick nichts davon mitbekamen? Egal, ich bekam meine Sachen jedenfalls alle wieder!

Ich weiß nicht, mit was für einer Maschine ich nach Jekaterinburgflog. Auf jeden Fall war es ein noch älteres Modell. Die Sitze knarrten und quietschten, der Motor war laut und manchmal klapperte etwas über mir. Die Rückenlehne ließ sich auch nicht komplett senkrecht stellen… na ja, egal, ich wollte unvoreingenommen an den Flug heran gehen.

Googelt man einmal die Fluggesellschaft, so findet man unter den ersten Suchergebnissen noch Absturzmeldungen aus 2012. Dies ermutigte förmlich zum Einsteigen. Aber ich sagte mir, dass man fast täglich von Autounfällen lesen kann und dennoch weiter in ein Taxi steigt. Also, was soll’s!

Das Personal an Bord sprach überhaupt kein Englisch. Wäre mein Sitznachbar nicht gewesen, wären Getränke und ein weiteres, dieses mal sehr leckeres, Sandwich an mir förmlich vorbei gegangen.

Um 20:50 Uhr (+4 Std.) landeten wir, wieder erstaunlich sanft, in Jekaterinburg. Kurz nach der Landung bimmelte sogleich mein Handy… hups, hatte wohl vergessen, den Flugmodus einzuschalten?!

Oleg erwartete mich bereits im Ankunftsbereich, um mich, gemeinsam mit Elena, welche ebenfalls für die Organisation tätig war, zu meinem Hotel zu fahren. Mein Sitznachbar war mir bis dahin noch behilflich, gemeinsam mit dem Flughafenmitarbeiter, welcher mir als Assistenz geschickt wurde, mein Gepäck zu suchen, denn der gute Mann sprach ebenfalls null Englisch. Trotz Sprachbarrieren, dies konnte ich bereits feststellen, waren viele Leute dennoch sehr hilfsbereit gewesen.

Der Flughafen liegt ca. 17 KM außerhalb des Zentrums. Nach einer Viertelstunde Autofahrt wurde ich an meinem Hotel, dem Park Inn, welches direkt im Stadtzentrum lag, abgesetzt und von Oleg und einer Rezeptionistin auf mein Zimmer im 3. Stock begleitet.

Das Zimmer war geräumig und verfügte über Duschbad mit seeehr niedrigem Waschbecken, einem großen Fenster, welches man jedoch nur kippen konnte, Flachbildfernseher, großem Bett und Minibar.

Wir verabredeten uns, trotz der späten Stunde, bereits für 10:00 Uhr am nächsten Morgen, denn Oleg wollte mich mit ins Büro der Organisation bzw. später mit auf eine Presseveranstaltung nehmen. Kurz bevor er ging, sagte er noch: „Es gibt hier einen Brauch für die erste Nacht, nämlich einen Spruch: Splu na novom meste, prisnis jenikh neveste. Wenn du ihn aufsagst, geht er in Erfüllung.“

Der Spruch bedeutet so viel wie, dass die Frau, die einem in der ersten Nacht im Traum begegnet, die zukünftige Ehefrau sein wird… Na ja, was soll ich sagen, geträumt habe ich nichts. Vielleicht lags auch an der falschen Aussprache? Versuchts doch selbst einmal! 😉


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.