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Gedanken-Gänge XVI: Ist Hören wirklich Lesen? oder: Vom eigenen Film im Kopf

Was bedeutet es zu lesen? Ist lesen, wenn wir Hörbücher hören? Ist lesen außerdem, wenn uns jemand vor-liest? Oder müssen wir selber aktiv lesen, um wirklich zu lesen? Denn viele behaupten, sie würden Bücher lesen, dabei hören sie die gewünschten Bücher ’nur‘ – lesen sie sie wirklich aktiv?

Auf Wikipedia wird das Lesen als visuelles oder auch taktiles Umsetzen von Schriftzeichen in Lautsprache definiert. Wir lesen Buchstaben, Silben, Wörter und interpretieren aus dem Gelesenen den Inhalt.

Diese Definition setzt jedoch im engeren Sinn auch die Aktivität des Lesens voraus, d. h. dass wir die Buchstaben selber quasi entschlüsseln, um daraus einen Sinn zu erkennen.

Was bedeutet es also, Hörbücher zu hören, anstatt selber (z. B. mit den Fingern Blindenschrift) zu lesen? Ist Hörbuch hören nicht eher vergleichbar mit der Rezeption eines Hörspiels oder eines Films? Denn nicht mehr wir interpretieren Text, sondern der Sprecher. Er verleiht den Figuren eine Stimme. Er entscheidet, wie traurig, erfreut oder ängstlich sie sich anhören. Ist er gut, erschafft er durch sein Vorlesen ein Bild im Kopf des Hörers; ist er es nicht, liest er monoton, mit wenig Ausdruckskraft, wird dies umso schwieriger.

Hörbücher sind zwar angenehm, vor allem für unterwegs, aber auf Dauer – zumindest für mich – keine Alternative zum selber lesen. Ich möchte selber für mich im Kopf entscheiden, wie das Gelesene zu interpretieren ist, wie sich Stimmen und beschriebene Orte anhören könnten und was die Romanfiguren fühlen. Ich brauche den eigenen Film im Kopf und nicht den, den der Sprecher quasi als Regisseur des Hörbuchs mir vorgibt. Denn dann kann ich auch aufs Lesen verzichten und mich im Kino einem spannenden Film widmen. Denn ich entscheide beim Lesen über die Erzählgeschwindigkeit. Ich kann beliebige Stellen beliebig oft lesen und, das ist eigentlich der wichtigste Punkt, nur ich entscheide über die Länge des eigenen Films im Kopf – nicht der Regisseur des Hörbuchs, der aus ökonomischen Gründen die Lesung kürzt.

Doch gerade aus wirtschaftlicher Sicht spräche genügend dafür, auf das Lesen von Blindenschrift zu verzichten und zum Hörbuch zu greifen. Das Angebot an Blindenschriftbüchern ist gering. Einer Schätzung nach, werden lediglich 5% aller im deutschsprachigen Raum erscheinenden Bücher als Punktschriftbuch umgesetzt, was die Auswahl um Längen einschränkt und die Auswahl an Hörbüchern nur um so größer erscheinen lässt. Zudem sind Bücher in Blindenschrift sehr teuer und man erhält nicht einmal mehr ein „richtiges“ Buch für sein Geld. Denn Ausdrucke aus einem Blindenschriftdrucker, einfach in Ringordnern abgeheftet, sind noch lange kein Buch!

Und was ist mit eBooks oder der Möglichkeit, Bücher selber einzuscannen und am PC über eine Braillezeile oder Sprachausgabe zu lesen? Komischerweise hat noch niemand einen eBook-Reader für Blinde entwickelt. Vorlese-Programme und -Apps werden einem zu Genüge hinterher geworfen. Doch was ist mit den aktiven Braille-Lesern? Sie bleiben auf der Strecke oder müssen auf sehr teure, mobile Braillezeilen zurückgreifen, deren Funktionsumfang denen eines eBook-Readers bei weitem übersteigt.

Daher kann ich den Hörbuch-Boom, vor allem unter den Blinden, durchaus nachvollziehen, teile ihn jedoch in keinster Weise. Dann doch lieber mobile Braillezeile und das Buch, das ich ausgewählt habe und nicht das, welches ein Hörbuchverlag oder eine Blindenschriftdruckerei vorgibt.