Kategorien
Artikel und Essays

Gedanken-Gänge XXXII – Zwischen Schockstarre und Flucht oder: Was passieren kann, wenn du als Blinder auf Sehende triffst

Angeregt durch diesen kleinen Blogbeitrag von Markus Böttner entstand dieser Text.

Es ist immer wieder faszinierend und erstaunlich: Kommst du als Blinder des Weges und platzt förmlich in eine Unterhaltung anderer Passanten hinein, weil du ihren Weg kreuzt (und sie dabei noch nicht einmal mit dem Stock berührst) , neben ihnen an der Bushaltestelle stehen bleibst oder dich zu ihnen ins Zugabteil setzt, verebben alle Gespräche – sofort!

Erstaunlich, weil man es doch eigentlich im öffentlichen Raum gewohnt sein sollte, dass andere Menschen sich zu einem setzen, an einem vorbeilaufen und/oder stehenbleiben. Faszinierend, da scheinbar die pure Anwesenheit eines Menschen mit Behinderung es schafft, die angeregteste Konversation im Keime zu ersticken. Nur warum?

Ursachenforschung zu betreiben ist schwierig, denn wohl die wenigsten Passanten würden uns frei heraus sagen, was sie an unserer Anwesenheit so irritiert oder gestört hat.

Es mag die allseits bekannte Mixtur aus Überraschung (nicht damit gerechnet), Spannung, Interesse bzw. Neugier (was passiert jetzt? Was macht er? Schafft er das?), Faszination (Toll, wie er das macht), Unsicherheit und Angst (Was soll ich tun? Soll ich überhaupt etwas tun?) sein, die die Sehenden vieler Orts in eine Art Schockstarre versetzen. Stößt man sie mit der Nase drauf („Sie dürfen sich gerne weiter unterhalten!“), kommt die Konversation nur sehr stockend wieder in die Gänge, der rote Faden scheint verloren.

Und noch schlimmer. Gerne verlässt man auch die Sitzreihe und setzt sich woanders hin, geht an der Haltestelle einige Schritte weiter etc. Für deine Anwesenheit wirst du, böse gesagt, somit auch noch bestraft; bei einem anderen, ohne Behinderung, hätten sie dies sicherlich nicht getan, es sei denn, er hätte sich vielleicht Tage lang nicht gewaschen oder würde, aus anderen Gründen, gegen das Welt- und Menschenbild des Anderen verstoßen. Aber auch hier wäre es wieder nur das typisch oberflächliche Urteilen und in die Schublade stecken.

In solchen Situationen der Irritation merke ich als Blinder immer wieder, wie groß die Berührungsangst heutzutage immer noch zu sein scheint. Da wird geglotzt, was das Zeug hält, ob nun aus Gründen der Überraschung oder Neugier, Verwunderung oder Bewunderung. Alltäglich sind wir im Straßenbild, im Zug, im kleinen Restaurant oder, wie im oben verlinkten Beispiel von Markus Böttner, im Freibad anscheinend im Jahr 2019 immer noch nicht – eine erschreckende Bilanz, wie ich finde, die mich meinerseits innerlich ein wenig in genannte Schockstarre versetzt und für Entsetzen sorgt.

Bekommt man doch mal jemanden zu einem Statement bewegt, so hört man die abgedroschenen Sehenden-Floskeln von wegen „ich müsse das doch verstehen“, „keine Erfahrungen im Umgang“, „Hat nicht damit gerechnet“ oder, mein persönliches Highlight: „Wir waren so im Gespräch vertieft und haben uns erschrocken“. Spannend. Der Herr, der sich kurz zuvor lautstark geräuspert hatte, schaffte es nicht, diese drastische Wirkung hervorzurufen, ich, der ich nur meines Weges ging, allein durch meine Blindheit jedoch schon.

Da verstehe ich Böttners sarkastischen Blick auf die Situation sehr gut, wenn er sagt, er könne Zaubern und durch sein Auftauchen die Menschen um sich herum zum Schweigen bringen und in eben so eine Schockstarre versetzen – der Zauber der Behinderung eben, der eigentlich nicht sein müsste.

Kategorien
Artikel und Essays

Gedanken-Gänge XXVI – Thema Inklusion und Teilhabe oder: Ich soll Verständnis haben… doch warum und wofür?

Schon oft habe ich hier über Inklusion oder Teilhabe geschrieben. Und oft haben sich Teile meiner Aussagen in meinen Beiträgen wiederholt. Soweit nicht schlimm, denn es sind meist die für die wirkliche Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung wichtigsten Punkte, die man immer wiederkäuend anführen muss, weil sie scheinbar nur die wenigsten verstehen… wollen.

Etwas, dass ich in jüngsten Gesprächen wieder einmal feststellen durfte: Ich, als selbst Betroffener, muss Verständnis aufbringen! Doch wofür und warum eigentlich?

Zugegeben mögen die folgenden Zeilen etwas böse wirken. Aber sie sind, wie viele andere in diesem Blog auch, zum Aufrütteln gedacht. Es mag viele Sehende geben, auf die der folgende Abriss nicht zutrifft, die sind herzlich zum „sich an den Kopf fassen“ eingeladen.

Ich möge doch bitteschön Verständnis dafür haben, dass heute, im bereits zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, viele sehende Menschen immer noch nicht wissen, wie man mit einem Blinden umgeht – nämlich, dass man ihn genauso zu behandeln hat, als könne er sehen. Dies soll nicht bedeuten, dass man unsere Blindheit einfach übergeht, sondern dass man uns ernstnimmt, uns trotz Blindheit gleichberechtigt behandelt und an allem teilhaben lässt. Doch für viele ist Blindheit immer noch ein rotes Tuch und sie sind maßlos überfordert, wie bei anderen Behinderungen auch. Es verschlägt ihnen die Sprache, wenn sie uns sehen, Fragen tauchen in ihrem Kopf auf, die sie sich zu stellen nie trauen, immer mit der Angst im Nacken, uns verletzen zu können. Für all dies und für das oft hinzukommende Mitleid aufgrund unserer Behinderung, dafür soll ich Verständnis haben.

Ich soll Verständnis dafür haben, dass uns Menschen, wie bei einem kleinen Kind, sagen, was wir tun dürfen, wo wir Hilfe benötigen und wo nicht, denn sie können sehen und somit besser beurteilen. Für Ausgrenzungen, Verbote und fadenscheinige Begründungen, alles nur zu unser aller Besten, dafür bräuchte ich wohl auch etwas mehr Verständnis.

Ich soll dann auch noch Verständnis für Diskriminierungen haben, die durch eben skizziertes Verhalten entstehen. Ich soll ruhig sein, nicht aufbrausend werden (weil dies unsachlich und unprofessionell ist) und einfach hinnehmen, denn es gäbe in dieser oder jener Situation ja regeln! Dass diese „Regeln“ von Sehenden aufgestellt wurden und teilweise auch noch gesetzeswidrig sind, interessiert nicht – friss, oder stirb… und hab auch hierfür bitte Verständnis.

Ich soll Verständnis dafür haben, dass in unserem Land vieles für Menschen mit Behinderung immer noch nicht selbstverständlich ist – in anderen Ländern jedoch schon. Dafür, dass viele diesen Vergleich erst gar nicht sehen bzw. hören und sich mit ihm aktiv befassen und auseinandersetzen wollen, weil wir ja in Deutschland und nicht in Land X seien, wäre doch auch ein wenig Verständnis meinerseits wünschenswert.

Und dafür, dass viele Menschen null Verständnis für mich, für meine Situation und für meine Argumente aufbringen können, weil sie es akzeptabel finden, dass man lieber über uns anstatt mit uns entscheidet, dass man uns ausschließt, dass man sich (oft unbewusst) über uns erhebt, ja, selbst hierfür soll ich am Ende Verständnis haben… ich soll also Verständnis dafür haben, dass Andere mich nicht verstehen können/wollen? Und ich soll zudem noch dankbar sein! Dankbar und genügsam, denn die Sehendenwelt tut ja schon so viel für uns… richtig, für uns, aber nicht mit uns; und dafür habe ich mehr als nur kein Verständnis!

Kategorien
Artikel und Essays

Gedanken-Gänge XXIII – Behinderung ist ein Manko oder: Warum Inklusion in Deutschland vielleicht nicht funktioniert

Über das Thema ‚Leben mit Behinderung’ wurde – sowohl in meinem, als auch in anderen Blogs – in den letzten Jahren viel geschrieben. Hinzugekommen ist seit geraumer Zeit auch das Themenspektrum der sog. „Inklusion“. Für viele ist dieses Wort bereits zum Unwort verkommen, da Inklusion in vieler Munde ist, vielerorts diskutiert wird und am Ende – so die Einschätzung vieler – eh wieder nichts dabei herauskommt. Und es gibt, so zumindest mein persönlicher Eindruck, auch gute Gründe, die diese Vermutung untermauern.

Inklusion wird scheinbar hierzulande meist im Zusammenhang mit Bildung gesehen. Hörte man in der Vergangenheit – beispielsweise im hinter uns liegenden Bundestagswahlkampf – etwas über Inklusion, so ging es meist um das Thema der Beschulung von Menschen mit Behinderung. Doch ist Inklusion nicht eigentlich viel viel mehr, als nur die Frage, wer wann wie und wo beschult werden sollte?

Inklusion bedeutet auch gleichberechtigte Teilhabe, nicht nur an Bildungsangeboten! Doch hiervon sind wir in Deutschland streckenweise noch meilenweit entfernt. Warum dies so ist, lässt sich nur erahnen.

Ein Grund könnte sein, dass Behinderung – sowohl von selbst Betroffenen als auch nichtbehinderten Menschen – immer noch als Manko gesehen wird. Wir sehen immer noch das, was wir nicht können, anstatt die Chancen und Möglichkeiten zu erkennen, die wir – trotz Behinderung – heutzutage haben und die andere ebenfalls haben können. Behindert ist für viele ein Schimpfwort. Auch wenn ich zu Beginn meiner Bloggertätigkeit das Wort vermieden habe, habe auch ich als selbst blinder Mensch inzwischen für mich gelernt, dieses Wort zu akzeptieren und auch zu nutzen. Ob wir jedoch „schwer“- oder „schwerst“-behindert sind, lassen wir mal ganz außenvor.

Die eigene oder die Behinderung anderer Menschen zu akzeptieren, scheint für viele auch heute noch ein großes Problem darzustellen. Behinderung ist ein Makel, ohne welches es sich besser (oder einfacher?) leben ließe. Das „Einfacher“ wird jedoch meist durch die nichtbehinderten Mitmenschen festgelegt und definiert. In ihrer Deutschen Fürsorglichkeit versuchen sie uns oft, Sicherheit zu vermitteln und beschützend uns vor dieser oder jener „Gefahr“ zu bewahren. Sie meinen entscheiden zu können, was wir brauchen und wollen – ein alter Hut, den ich in zahlreichen, älteren Artikeln bereits behandelt habe.

Jüngst der Fall eines Braunschweiger Arztes erregte meine Aufmerksamkeit und war mit der Auslöser für diesen Artikel. Eine Mutter entschied sich, bei ihrem gehörlosen neugeborenen Kind eben kein sog. CI-Implantat einsetzen zu lassen, durch das es hätte (bedingt) hören können – eigentlich ihr gutes und (aus meiner Sicht) verständliches Recht. Dieser Fall wird nun vor Gericht ausgetragen, da sowohl der HNO-Arzt der Braunschweiger Klinik als wohl auch das Jugendamt anderer Auffassung waren. Doch warum diskutieren wir hier überhaupt über so etwas? War die Aufklärungsarbeit von Behindertenverbänden in den letzten Jahrzehnten so sinnlos und für umsonst gewesen, das immer noch derartige Ansichten bzgl. Einer angeborenen Behinderung vorherrschen? Sind wir vielleicht im öffentlichen Leben noch nicht präsent genug, dass Behinderung – wie Segelohren, eine krumme Nase, ein wenig Hüftgold oder ein anderes, banales Etwas – als etwas gilt, dass es „abzustellen“ oder zu „beseitigen“ ist.

Es ist schön, wenn Forscher einen Weg finden, gehörlose wieder bedingt hörend zu machen, es Versuche gibt, Sehnerven gentechnisch zu erzeugen, es Prothesen für Hände, Beine, Hüfte etc. gibt, welche dem Träger das Leben erleichtern könnten – dies steht ganz außer Frage. Die eher ethische Frage ist jedoch, was machen derartige Möglichkeiten mit uns und unserem Denken über Behinderung?! Denn die Möglichkeit einer Möglichkeit ist doch für viele sicherlich schon Grund genug, Behinderung weiterhin als Manko zu sehen – es gäbe ja eine Alternative. Was wird eben aus den Leuten, die eben nicht bei jeder noch so kleinen Chance, ihre Behinderung ad acta zu legen, laut „hier!“ schreien werden? Warum? Weil sie sich, ihre Behinderung und ihr Leben so akzeptieren. Es ist keine hinnehmende Akzeptanz („Ich kann doch eh nichts an meinem Schicksal ändern…“), sondern eine erfüllende Akzeptanz, weil derjenige sein Leben aus seiner Sicht uneingeschränkt leben und auch genießen würde und nicht ewig in Selbstmitleid und Lethargie versinkt. Dieses ewige „Du könntest doch, warum tust du nicht?!“ bringt uns in unserer Diskussion um mehr Teilhabe und Inklusion überhaupt nicht weiter. Im Gegenteil! Es ist ermüdend, sich und sein Handikap immer und ewig erklären zu müssen. Wenn wir uns akzeptiert haben und mit unserer Behinderung im Reinen sind, ist Mitleid – in welcher Form auch immer – das Letzte, das wir brauchen.

Denn genau darum ist es – nach meinem Empfinden – hier in Deutschland ja so schwer, Inklusion wirklich zu (er)leben! Weil wir das Übel nicht an der Wurzel packen und uns lieber hinter Bildung und baulicher Barrierefreiheit verstecken. Inklusion und Barrierefreiheit fangen jedoch im Kopf eines jeden von uns an. Wenn wir immer nach Lösungen forschen, wie man Behinderungen beseitigen könnte, werden wir nie Behinderungen als solche zu akzeptieren und mit ihnen umzugehen lernen.