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Gedanken-Gänge II: Frühreife Früchtchen oder: Wenn Kinder nicht mehr Kind sein dürfen

Letztens in der Bahn erzählte ein ca. 10jähriges Mädchen ihrer Mutter, dass sie jetzt mit einem Jungen aus ihrer Klasse „zusammen“ sei, „also so richtig“. Dies veranlasste mich zu diesem kleinen Artikel…

Die Kindheit verschwindet – das hatte seiner Zeit schon Neil Postman festgestellt und ein ganzes Werk darüber verfasst. Postman gab jedoch vor allem dem Einfluss der Medien, vorrangig dem Fernsehen, die „Schuld“ an der verschwundenen Kindheit. Doch stimmt das wirklich?
Zugegeben liefern Medienangebote genügend Anhaltspunkte für die kindliche Orientierung, aber kann das ganze Übel der verschwundenen Kindheit auf das Fernsehen und seine Angebote zurückgeführt werden?

Seit einiger Zeit beobachte ich schon, dass Kinder bzw. Jugendliche immer früher Verhaltensweisen der Erwachsenen übernehmen. Zwar sind sie noch jung, jedoch reden und kleiden sie sich, als wären sie bereits zehn Jahre älter. Den Wunsch nach dem Großsein kennt noch ein jeder von uns aus seiner eigenen Kindheit. Da wurde im Spiel so getan, als sei man groß, da wurden sich mamas und papas Kleidung und andere Gegenstände fürs kindliche Spiel des Großseins ausgeborgt. Aber im Vergleich zur heutigen Kindheit scheint es, als wäre aus dem bloßen Spiel purer Ernst geworden. Jetzt verkleidet man sich nicht nur bloß, man fängt im realen Leben an, sich noch früher zu schminken oder sich einen ersten Beziehungspartner zu suchen. Liegt das wirklich alles nur am Fernsehen?

Zugegeben. Das Fernsehen bedient kindliche Wünsche. Spätestens seit es Castingshows gibt, kann man, so suggeriert es uns das Fernsehen, nicht mehr nur so tun, als wäre man ein Star, es ist nun auch möglich, so schön und berühmt zu werden, wie die Star-Idole. Nicht umsonst startete vor kurzem mit „The Voice Kids“ erneut eine Castingshow allein für Kinder. Der Wunsch nach dem Erwachsensein geht somit also in die nächste Stufe.
Es lassen sich aber auch weitere, andere mediale Beispiele finden, wie in den zahlreichen Reality-Shows, in denen Teenager gezeigt werden, die bereits ein Kind zur Welt gebracht haben.

Da die heutigen Kinder bereits mit Medien aller Art aufwachsen, d. h. nicht mehr groß an sie herangeführt werden müssen, weil sie schon von Anfang an im Alltag integriert sind, können sie auch früher damit beginnen, sich die dort gebotenen Geschichten zu eigen zu machen. Vielleicht mag dies dazu führen, dass viele Entwicklungsprozesse beim Kind nun früher beginnen, als noch z. B. vor zehn oder fünfzehn Jahren.

Doch woher kommen diese Wünsche? Woher kommt dieser Drang, Kindheit und Jugend unbedingt über Bord werfen zu müssen, um schon so früh wie nur möglich zu „den Großen“ zu gehören?

Es sind nicht die Medien allein, es ist vor allem auch die Gesellschaft, die uns dieses Vorbild vorlebt. Angefangen bei der um sich greifenden Diskussion, ab wann und wie lang ein Kind zur Schule gehen sollte, bei der Frage, inwieweit in Kindergärten bereits Inhalte gelehrt werden sollten, die vormals ausschließlich der Schule vorbehalten blieben (z. B. Sprachen) usw. usf.

Irgendwie scheint es, als wäre unser Gesellschaftssystem zu einem Warenmarkt verkommen. Alles muss, wie in einem Warenhaus, miteinander vergleichbar sein. Wenn Land X besser im Bildungsvergleich abschneidet, müssen wir schnellstmöglich unser System überdenken und umrüsten. Wir müssen global denken, sollte unser Kind einmal in naher Zukunft auswandern und einen Job in Honolulu annehmen wollen, muss es ja schließlich dem dortigen Bildungsstand ebenfalls entsprechen.

Aber zurück zur Kindheit. Nach meinem Verständnis sollen Kinder spielen, sich und ihre (Um-)Welt entdecken. Ich meine damit jedoch nicht, dass man ihnen den Medienzugang verwehren sollte, denn Medien gehören zum heutigen Kinderalltag nun einmal dazu und bieten viele Ansatzpunkte für Spiel und Fantasie. Nur haben das einige scheinbar noch nicht begriffen. Denn überall muss es etwas zu lernen geben. Alles, was das Kind tut, muss mit pädagogischem Nutzwert versehen sein. Und was am Ende übrig bleibt, sind entweder Kids, die viel zu früh viel zu erwachsen werden oder diejenigen, die nicht mehr wissen, wie man sich vernünftig rauft, weil selbst das der heutigen Kinderkultur vorenthalten bleibt und man sog. spielerische Gewalt falsch interpretiert und im Keim zu ersticken versucht.
Wenn ein Cowboy zu Fasching nicht mehr mit Gewehr, der Pirat ohne Sebel und der Ritter ohne Schwert im Kindergarten zu erscheinen hat, dann frage ich mich, was aus unseren Kinderspielen geworden ist, die wir , mit und ohne Medien, früher ausgetragen haben. Die uralten Spiele des „Cowboy und Indianers“ oder von „Räuber und Gendarm“ sind doch heute gar nicht mehr spielbar. Nicht, weil Medien sie den Kindern ausgetrieben haben! Sie sind verpönt, weil man heutzutage Konflikte nicht mehr durch Gewalt lösen sollte und weil das Kind ja am Ende im Spiel auch etwas fürs Leben lernen sollte. Das Kind projeziert die altertümlichen Figuren des „Räuber und Gendarm“ auf seine heutige Medienwelt, kann sie jedoch kaum mehr ausleben. Denn wenn Spiderman den Bösewicht in die Flucht schlägt, ruft dies gleich die Kindergärtnerinnen auf den Plan, welche Meldung an die Eltern machen: „Ihr Kind hat sich geprügelt!“ Ist deswegen die neueste Auflage des Spiderman („Ultimative Spiderman“) so unsäglich langweilig an dem Schulalltag eines Jungen orientiert, ohne die früheren fantastischen Elemente? Es gibt kein „Gut“ und kein „Böse“ mehr, ein jeder kann gewinnen. Schöner, integrativer, Gedanke. Nur ob es so funktioniert?

Das Kind muss heute perfekt sein. Vielleicht so perfekt, wie es seine Eltern nicht mehr sein können? Erinnert mich ein wenig an „Brave new World“, wo im Vorfeld schon feststand, in welche Kategorie Mensch das noch nicht geborene Kind einmal einzuordnen ist. Und so ein Kategoriendenken findet sich teilweise auch heute:
Das Kind muss früh gebildet werden, um möglichst früh selbstständig handeln und denken zu können, um möglichst sehr erfolgreich Schule und Ausbildung hinter sich zu bringen, um am Ende frühstmöglich auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Dabei sollte es bereits zu Beginn der Grundschule eine Fremdsprache sprechen, einen Konflikt nur noch in Worten lösen können, in kürzester Zeit möglichst viele Bücher gelesen haben… und man könnte die Liste noch so weiterführen.

Als Eltern gerät man ganz schön in die Bredouille. Denn zwischen den eigenen Vorstellungen, sein Kind zu erziehen und den gesellschaftlichen Vorstellungen können Welten liegen. Wenn man mich bspw. fragt, ob ich mein Kind mit 5 bereits einschulen lassen würde, würde ich ganz klar mit ’nein‘ antworten, auch wenn mein Kind geistig und körperlich dem Schulalltag bereits gewachsen wäre. Jedoch finde ich, sollte ein Kind noch Kind sein dürfen. Erwachsen wird es noch früh genug!


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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