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Wann ich merkte, dass ich blind bin?

Eine Frage, die ebenfalls von Sehenden recht häufig gestellt wird. Hört man genauer hin und hinterfragt ein wenig, so bemerkt man auch sehr schnell diesen Ängstlichen Unterton, als würden sie vermuten, man hätte eine so schwere Kindheit gehabt, weil Kinder so grausam sein und einen aufgrund der Blindheit doch hänseln könnten… Schließlich, so vermuten ja viele (Sehende), lebt man als Blinder in seiner ganz „eigenen Welt“ und führt ein ganz „anderes Leben“…

Dies veranlasste mich zu diesem Beitrag, ein kleiner Sprung in meine eigene Vergangenheit.

Ich habe mal meine Eltern gefragt, wann sie eigentlich gemerkt hatten, dass ich nichts sehen kann? In den ersten Monaten bemerkte man es natürlich nicht sofort. Babys fassen grundsätzlich alles an und drehen auch noch den Kopf in alle Richtungen, aus denen sie Geräusche und Stimmen hören. Erst später sei, vor allem auch bei Untersuchungen, festgestellt worden, dass ich blind sei. Für meine Eltern ein Schock, zumal mein damaliger Kinderarzt der Ansicht war, dass aus blinden Menschen eh nichts wird und er mit seiner hinterweltlerischen Ansicht auch nicht hinterm Berg halten konnte. Hinzu kam noch, dass die Informationsmöglichkeiten Mitte der 1980er Jahre recht eingeschränkt waren. Einen Blindenverein mag es zwar gegeben haben, aber man wurde als Elternteil nie auf so etwas hingewiesen und musste sich zunächst seine Informationen über Möglichkeiten und Unterstützungen selbst zusammensuchen – im heutigen Zeitalter des Internets völlig unvorstellbar.

Dies hatte jedoch auch gewisse Vorteile. Ich wuchs „normal“ auf, konnte das tun und lassen, was alle in meinem Alter taten. Spielen, rumlaufen, später dann mit dem Dreirad fahren etc.

Mit 3 Jahren sollte ich dann in den Kindergarten kommen, eine Mammut-Aufgabe, wie ich oft in Gesprächen heraushören konnte. Denn meine Mutter wurde oft an die sog. „Behindertenkindergärten“ verwiesen. Dies lehnte sie jedoch strickt ab! Ich sei nicht geistig oder körperlich behindert, ich sei nur blind und könnte genau so gut mit sehenden Kindern spielen und aufwachsen – so ihre Argumentation. Gott sei Dank wurde diese irgendwann auch akzeptiert. 😉 Und so besuchte ich wochentags den Kindergarten… Doch wie gingen die anderen Kinder mit mir um?

Soweit ich mich zurück erinnere, fühlte ich mich in dieser Zeit nie ausgeschlossen oder ausgestoßen. Kinder, und das wird oft unterschätzt, können viel offener und unbefangener auf Menschen und Dinge zugehen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie stellen oft für den Erwachsenen peinliche Fragen und versuchen so, das Unbekannte zu begreifen. Im Kindergarten war dies bestimmt nicht anders. Die anderen Kinder gingen mit mir „normal“ um, d. h. es war für sie irgendwann wie selbstverständlich, mich bei Ausflügen an die Hand zu nehmen, mir Dinge zu zeigen und in die Hand zu geben oder zu erklären. Es war für die Kindergärtnerinnen eine Selbstverständlichkeit, dass ich, wie alle Anderen auch, auf dem Spielplatz vorm Kindergarten tobte, mit dem Dreirad fuhr, herumlief und spielte.

Dass ich nichts sehen kann und die Frage, warum das so ist, habe ich mir – soweit ich mich erinnern kann – damals nie gestellt. Klar, ich habe mich schon mal gefragt, warum ich der Kindergärtnerin mit dem Dreirad über die Füße fuhr, warum ich mit Vollkaracho ins Blumenbeet raste und alle anderen nicht. Aber ich habe es hingenommen und akzeptiert und es nicht weiter hinterfragt. Und es kam auch nie der Einwandt, ich könne etwas nicht machen, bloß weil ich es nicht sehe. Selbst beim Basteln und Malen wurde ich nicht ausgeschlossen – und wenn man mir das auszumalende Bild aufwendig mit Tackerklammern quasi vorgezeichnet hatte oder ich einfach meiner Fantasie freien Lauf lassen konnte.

Und Zuhause bei meinen Eltern war es nicht anders. „Geht nicht, gibt’s nicht“ lautete auch hier die Devise. Ob es nun Gesellschaftsspiele (die es in umgebauter Form auch für Blinde gab und gibt) oder Medienangebote waren oder das Videospiel. Ich bin heute meinen Eltern dafür sehr dankbar, dass sie mir den Zugang zu allen Medien ermöglichten: Bücher wurden, so lang ich nicht selber Blindenschrift lesen konnte oder es diese schlicht weg nicht in Blindenschrift gab, von meiner Mutter vorgelesen, ich bekam Hörspielkassetten vorgespielt und für meinen Vater war es nur selbstverständlich, dass ich auch später fern sehen und mir Videos anschauen wollte. Meine Neugier führte auch dazu, dass ich als Kind mit Spielkonsolen in Berührung kam. Ich merkte schnell, dass man sich auch anhand von Musik und Geräuschen orientieren und Spaß am Spielen haben kann. Zwar kommt man oftmals nicht sehr weit, aber das spielte für mich keine Rolle. Mit 10 wünschte ich mir einen eigenen Gameboy, was von meinen Onkels und Tanten verwundert zur Kenntnis genommen wurde, meine Eltern waren derartig ausgefallene Wünsche ja bereits gewohnt. 😉

Mit diesen Freizeitbeschäftigungen, dem Fernsehen, Videos schauen und Konsolenspiele spielen, also dem, was (fast) jedes sehende Kind tut, war ich später an der Blindenschule jedoch mehr oder weniger Außenseiter. Das mag komisch klingen, bedenkt man jedoch, dass es sehr wenige blinde Kinder gab, die zu meiner Zeit fern geschaut oder Videospiele gespielt haben, verwundert es wiederum nicht. Viele konnten mit Fernsehen oder Videogames nichts anfangen, hatten keinen Zugang dazu, ihnen wurden diese Dinge vielleicht auch von ihren Eltern aufgrund ihrer Blindheit vorenthalten. Das war merkwürdig für mich und so passte ich mich an: Im Internat tat ich das, was alle dort taten, war ich Zuhause, konnte ich quasi wieder ich selbst sein. Dies änderte sich später, als ich aufs Gymnasium nach Marburg kam, wo auch Jugendliche mit ein wenig Sehrest beschult wurden, die – natürlich – auch Playstation spielten und ins Kino gingen.

Vor allem in der Zeit in Marburg fing ich an, mich aktiv mit dem Thema meiner Sehbehinderung auseinanderzusetzen. Hätte es die Möglichkeit für mich gegeben, wieder durch Operationen sehen zu können, hätten meine Eltern keine Sekunde lang gezögert – ich jedoch schon. Der Wunsch so zu bleiben, wie ich war und bin, entstand bei mir schon recht früh. Ich glaube, das erste mal habe ich über diese Frage, ob ich sehen können wollte, mit 11 Jahren nachgedacht. Und schon damals stand die Antwort klar fest: Nein! Dieses klare „Nein“, an dem meine Eltern sehr lange zu knabbern hatten, verdanke ich jedoch genau ihnen. Denn sie und auch die Leute im Kindergarten vermittelten mir schon früh das Gefühl, dass mir nichts fehlt und ich, trotz Blindheit, meinen Weg gehen kann – was will man mehr.

Später am Gymnasium, wo vollblinde und sehbehinderte Jugendliche anzutreffen waren, hatte ich manchmal das Gefühl, es entstünde eine Art Konkurrenzsituation zwischen Blinden und den Sehbehinderten. Viele von uns Blinden fühlten sich irgendwo benachteiligt, sie hatten den Eindruck, viele Dinge, die die Sehenden können, nicht machen zu können oder zu dürfen. Leider stelle ich auch noch heute in Gesprächen mit anderen Blinden fest, dass dieses Bild, dass man vieles als Blinder nicht machen kann, irgendwo immer noch im Kopf einiger vorhanden ist.

Ich hätte nach der 6. Klasse die Möglichkeit gehabt, mich integrativ beschulen zu lassen, dies hätte bedeutet, ich wäre auf ein „Regelgymnasium“ mit anderen, sehenden, Schülern gegangen. Es war jedoch daran gescheitert, dass die Schulen nicht bereit waren, mich aufzunehmen. Die Begründungen waren fadenscheinig: Die Unterrichtsfächer seien nicht immer im gleichen Raum, man müsse das Gebäude wechseln und da wären schließlich ja auch Türen und Stufen und man könne es doch den anderen Mitschülern nicht zumuten, mich immer an die Hand überall mit hin zu nehmen… Aus heutiger Sicht schüttele ich erst recht mit dem Kopf. Hätten wir damals gewusst, dass es beim Marburger Gymnasium nicht anders war, hätten wir auch besser argumentieren können… Aber so ließen meine Eltern, verständlicherweise, die Bemühungen in dieser Richtung sein. Alternativ hätte es noch die Möglichkeit einer integrativen Beschulung in Hamburg gegeben, hier kooperiert ein Gymnasium mit der Hamburger Blindenschule. Nur dumm, dass wir bei einem Besuchstermin zwei Schüler präsentiert bekamen, die an diesem Modell gescheitert waren – dies schreckt einen damals 12-Jährigen erst einmal ab. Und so landete ich letzten Endes in Marburg.

Marburg, die Stadt der Blinden. Anfangs fühlte ich mich hier pudelwohl. Je älter ich wurde, desto mehr wuchs in mir der Wunsch, die Welt zu erkunden, andere Städte kennenzulernen und den geschützten Rahmen dieser Stadt zu verlassen. Dies tat ich auch. Zunächst zum Teil unerlaubt auf kleinen Erkundungsausflügen z. B. in die Kassler Innenstadt. Und so merkte ich sehr schnell, es geht mehr, als uns manchmal zugemutet wird oder, als wir Blinden uns manches mal selber nur zumuten.

Es mag komisch klingen – aber nach meinem Umzug nach Hamburg hatte ich zum Teil das Gefühl, in meinen erst 21 Jahren Dinge verpasst zu haben. Feiern gehen, Party machen, Discos besuchen. Gerade letzteres wird ebenfalls von einigen Blinden gleich abgetan. Zu laut sei es und zu voll. Die Fülle an Menschen ist jedoch auch hilfreich, gerade, wenn man den Ausgang finden möchte. Ich erkundete die Stadt, auf eigene Faust. Ich scherte mich nicht darum, andere Blinde kennenzulernen oder Kontakt zum hiesigen Blindenverein aufzunehmen. Ich habe Reisen in fremde Länder unternommen und mir nie von jemandem sagen lassen, dass ich dies alles aufgrund meiner Sehbehinderung nicht tun könne.

Wann ich also merkte, dass ich blind bin? Genau kann ich es nicht sagen! Heute gehört es zum Alltag, Dinge zu erfragen, anzufassen und sie mir zugänglich zu machen. Doch leider gehört es auch zum Alltag, das, was ich tue, vor Anderen, zum Teil ebenfalls Blinden, zu verteidigen. Ich bekam Vorwürfe zu hören, ich würde meine Blindheit nicht akzeptieren und könne oder wolle somit auch nicht begreifen, dass es nun einmal Dinge gibt, die man als Blinder nicht machen kann. Klar gibt es diese – Pilot, Rennfahrer oder Maurermeister kann ich nicht werden, na und? Ich würde mich über all die anderen Blinden „erheben“, die nicht so sind, wie ich. Falsch: Ich bin vielleicht nur anders aufgewachsen und erzogen worden, als die „anderen Blinden“, das ist der Unterschied.


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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