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Gedanken-Gänge XIV – Schönheit im „Auge“ des Betrachters: Wie ich als Blinder über Schönheit denke

„Was bedeutet für dich, als Blinder, eigentlich Schönheit? Was findest du schön?“

Eine Frage, die mir in der Vergangenheit von vielen Gästen, die ich durch die Ausstellung ‚Dialog im Dunkeln‘ geführt habe, gestellt wurde. Sehr häufig bezog sie sich, natürlich!, auf die „Schönheit“ bei Menschen, da viele Besucher im Dunkeln erst einmal (be)merken, dass es für eine gute Unterhaltung und für ein Kennenlernen doch nebensächlich ist, wie das Gegenüber eigentlich aussieht, ob es dick, dünn, groß oder klein ist, lange oder kurze Haare, blaue, grüne oder braune Augen und eine helle oder dunkle Hautfarbe hat. Und wenn ich erzähle, dass ich alleine Reise und dabei sogar noch fotografiere, steht natürlich immer die Frage im Raum, was für mich „schöne“ Orte bzw. Motive sind?

Als inzwischen Großstadtmensch liebe ich Hamburg. Mir gefällt der Trubel, die Abwechslung zwischen typischem Großstadtrummel und grünen Ruheoasen wie dem Stadtpark, dem Wechsel zwischen Stadt und Wasser… Hamburg ist für mich, nach meinem Verständnis, eine „schöne“ Stadt. Ich brauche keine besonderen Gebäude, keine Prunkbauten, keine Häuschen mit spitzen Dächern, um eine Stadt zu mögen. Auch wenn diese Dinge auch ihren ganz eigenen Charme versprühen: Enge Altstadtgassen mit Kopfsteinpflaster, bei denen man, wenn man beide Arme ausstreckt, zu beiden Seiten die Fassaden der alten Gebäude ertasten kann, ein altes Rathaus auf einem Marktplatz mit einem hohen Glockenturm oder eine alte Kirche, alles das sind Dinge, die ich, je nach dem, auch als „schön“ empfinden kann. Und es spielt überhaupt keine Rolle, dass ich sie nicht sehe! Auch wenn der Sehende bei meiner Empfindung, ob ein Ort für mich „schön“ ist, oftmals eine sehr wichtige Rolle spielt. Denn durch seine Beschreibungen lerne ich den Ort noch besser kennen. Aber selbst, wenn diese Beschreibungen mal fehlen, finde ich noch genügend andere Anhaltspunkte und Impulse. Etwas, dass der Sehende oftmals überhaupt nicht ’sieht‘, denn Hände, Füße, Ohren und Nasen scheinen manchmal fast wie ausgeschaltet, wenn Sehende einen Ort besuchen.

Und was ist an Menschen schön? Wenn ich eingangs erwähnt habe, dass viele Menschen, die den ‚Dialog im Dunkeln‘ besuchen, für sich feststellen, dass man sich quasi auf Augenhöhe begegnen kann, ohne einmal zuvor sein Gegenüber abgescannt zu haben, bedeutet dies jedoch nicht, dass nicht auch Blinde oberflächlich sein können – dies ist ein Trugschluss! Natürlich be- bzw. verurteile ich mein Gegenüber nicht nach seinem Äußeren. Mir ist für eine Unterhaltung völlig egal, wie der andere aussieht und es spielt zunächst auch überhaupt keine Rolle! Ich grabbel dem anderen nicht im Gesicht herum, auch wenn dies viele immer noch glauben. Wenn es mich interessiert, wie jemand aussieht, frage ich. Außerdem bekommt man auch ohne großes Zutun viel vom Gegenüber mit. Dafür entscheidet am Anfang die Stimme, auch wenn natürlich dieses „Urteil“, ob derjenige jetzt sympathisch erscheint oder nicht, genau so oberflächlicher Natur ist, wie die Vorabauswahl des Sehenden. Also, ich als Blinder bin auch nicht frei von jeglicher Oberflächlichkeit – warum sollte ich auch! Ich bin es vielleicht nur nicht in solch großem Ausmaße.

Denn spätestens, wenn es um die Frage des Partners geht, hat doch ein jeder von uns, ob blind oder sehend, gewisse Vorstellungen? Können nicht sogar Charaktereigenschaften, je nachdem welche es sind, genau so oberflächlich sein, wie die Grundvoraussetzung, dass der Partner ein Südländer sein muss? Viele glauben ja, am Aussehen den Charakter ableiten zu können. Spannendes Unterfangen, an dem mit Sicherheit immer diejenigen kläglich scheitern, die sich auf der letzten Party jemanden geangelt haben, die sich – man verzeihe die Wortwahl – so richtig aufgebretselt hat. Wie das schön verpackte Geschenk für den Gastgeber, sind auch viele Gäste toll verpackt und so manch einer möchte – glaube ich – auch gar nicht so genau unter die „Verpackung“ schauen… er (oder sie) könnte enttäuscht werden. Man müsste sich ja dann doch mal mit anderen Werten als nur der „Schönheit“ auseinandersetzen.

Aber nun mal endlich Butter bei die Fische: Auch wir Blinden haben Wünsche und Vorstellungen, wenn es z. B. um die „Schönheit“ des Partners geht. Wenn ich für mich die Frage, wen oder was ich „schön“ finde, beantworten soll, so finde ich molligere Frauen für mich attraktiv. Ich mag es auch, wenn sie lange Haare hat. Aber ich mag es nicht, mich von Vornherein, trotz dieser Schönheitsvorstellung, gleich darauf zu versteifen. Und dies wiederum führt zu einer Gegenfrage: Liegt Schönheit nicht immer im Auge des Betrachters? Wenn man darüber nachdenkt, muss man ernüchternd feststellen, dass diese Frage inzwischen nur noch bloße Rhetorik ist – einen Euro also ins Phrasenschweinchen bitte. Denn im Sinne des Massengeschmacks, der großen Welle, auf der die meisten mal mehr und mal weniger mitschwimmen, entscheiden natürlich nicht mehr wir, was wir für „schön“ empfinden.

Wenn ich sage, dass ich mollige Frauen mag, kommt sogleich oftmals der Einspruch, dass ich selber doch schlank sei. Ich werde jetzt nicht mit der Gegensätze-Debatte anfangen. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Aber warum müssen wir überhaupt „Schönheit“ ausdiskutieren, wo sie doch im Auge des Betrachters liegt? Die Antwort darauf könnte sein, dass Individualgeschmack immer etwas sein wird, dass für die Massenwellenschwimmer unbegreiflich ist, weshalb sie häufig der Meinung sind, uns in unserem Geschmack ein Stück weit bekehren zu müssen.

Etwas, das ich noch gar nicht angesprochen habe, was jedoch in der heutigen, perfekten Gesellschaft einen immer größeren Stellenwert gewinnt, ist die eigene Schönheit: finden wir uns selber schön? Natürlich nicht, denn es gibt da draußen immer jemanden, der tausendfach schöner ist, als wir. Nur warum stört uns dieser Umstand eigentlich so sehr. Haben wir Angst, an Anerkennung zu verlieren? Oder haben wir es verlernt, andere und aber vor allem erst einmal uns selbst zu akzeptieren? Lernen wir diesen Wert überhaupt noch oder ist die eigene Wertschätzung nur dann von Bedeutung, wenn sie andere vorher immer bestätigen? Ein durch Kollegen lapidar geäußertes „Na, hast im Urlaub etwas zugenommen?!“ sorgt bei vielen ja gleich für Entsetzen und Schweißausbrüche, denn in der scherzhaften Äußerung könnte ja noch etwas anderes mitschwingen: „Man, bist du aber fett geworden!“ Und wenn schon. Leidet darunter gleich die „Schönheit“ und Attraktivität? Das wirklich schlimme ist, dass diese kleinen Abweichungen von der Schönheits-Norm dermaßen überbewertet und verinnerlicht werden. Und wertende Kommentare, wie ein „Man, sieht der aber komisch aus!“ tragen auch nicht wirklich zur gegenseitigen Akzeptanz von vielfältiger „Schönheit“ bei.

Denn eines haben wir in der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Schönheitsdebatte mit Sicherheit verlernt: Wir wissen vor lauter perfekter „Schönheit“ gar nicht mehr, dass es vor allem die Kleinigkeiten sind, die an uns „schön“ sein können und die andere, besonders aber wir selber schätzen sollten…


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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