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Zwölf Tage blind durch den Balkan: Ein Reisebericht aus Belgrad, Sarajevo und Zagreb

Tag 6: Halbzeit und ein Tag mit vielen Fragen

Donnerstag, 19.04.2018

Und auch am diesem Tag wurde ich bereits früh geweckt. Nicht nur, dass mein Etagenbettnachbar des Nachts zurück kam und sich redlich bemühte, die Leiter nach oben zu erklimmen, sein Handy weckte mich (und sicher auch den Rest des Zimmers) um punkt 6:30 Uhr – vielen Dank. Ich blieb liegen, konnte jedoch nicht mehr wirklich einschlafen. Da ich mir nicht sicher war, ob der Rest der Zimmerbelegschaft noch schlief, wollte ich nicht in meinem Koffer kramen, um z. B. meinen Laptop rauszuholen; ich musste es ja meinem Bettnachbarn nicht gleich tun und erneut sämtliche Leute wecken.

Um 7:30 Uhr stand ich dann endlich auf, ging duschen und war gerade dabei, alle Sachen wieder im Koffer zu verstauen, als es an der Zimmertür klopfte und Alen, mein Tourguide vom Vortag, mich mit den Worten „Guten Morgen, das Frühstück is ready“ zum selbigen abholte.

Das Frühstück war nicht wirklich nach meinem Geschmack, viel war für mich hier nicht zu holen. Ich aß eine heiße Brühe mit Nudeln und probierte etwas, das ich am Ende noch nicht mal genau definieren kann. Eine Art Brei bestehend aus gefühlt flüssiger, warmer Schokolade, Kokusflocken, obenauf frischen Erdbeeren und keine Ahnung, aus was noch. Es war sehr süß und lag mir schwer im Magen – morgen würde ich mir etwas anderes suchen, beschloss ich nach dem Frühstück.

Um Punkt 9:00 Uhr wurde ich von der Mitarbeiterin von Fikre Sukro, dem Direktor des hiesigen Blindenvereins, mit dem Auto abgeholt und zum Vereinsgebäude gebracht. In den darauf folgenden anderthalb Stunden erfuhr ich einige erste Infos über die Situation blinder Menschen in Bosnien. Insgesamt leben ungefähr 5.000 blinde Menschen in Bosnien. Der Verein bemüht sich, so gut es eben geht, sich für mehr Barrierefreiheit, mehr Integration und vor allem auch für mehr Aktivitäten und Mobilität einzusetzen. Es gibt stattliche Unterstützungen für den Verein, diese reichen, wie so oft, natürlich nicht aus, um alle gewünschten Projekte umzusetzen. Zudem sei es in manchen Kantonen so, dass Menschen, die aufgrund eines Kriegsleiden z. B. erblindet sind, mehr Rechte haben, als diejenigen, die beispielsweise seit ihrer Geburt blind sind. Dagegen anzugehen ist teilweise sehr schwer, aber man wäre auf einem guten Weg.

Was mir bei dieser Gelegenheit auch mitgeteilt wurde, der Verein hatte meinen halben Tag für weitere Gespräche und einen Besuch der örtlichen Blindenschule verplant. Warum nicht dachte ich, ein etwas anderes Programm, etwas abseits der sonst üblichen Touristenwege.

Und so traf ich um 11:00 Uhr den Präsidenten der Blindenorganisation, erfuhr hier jedoch nicht viel neues, da er es war, der viel über die Situation blinder Menschen in Deutschland und auch speziell in Hamburg erfahren wollte.

Nach einem kurzen Mittagssnack ging es weiter zur Blindenschule, welche etwas außerhalb des Stadtzentrum liegt und sowohl eine Grundschule als auch eine weiterführende Schule beinhaltet. Ich interviewte Damir, den Schulleiter und erfuhr, dass die Schule auch einige wenige Ausbildungsgänge anbietet (z. B. zum Physiotherapeut) oder Studierende bei ihrem Studium unterstützt, angefangen bei der Materialbeschaffung bis hin zur Unterbringung, so sie von weiter außerhalb kommen. Auf die Frage, ob blinde Menschen seiner Meinung nach gut in die Gesellschaft integriert seien, bekam ich zur Antwort, dass man als Blinder nicht immer warten sollte, bis sich jemand erbarmt und einem hilft. Man müsse selber aktiv werden, aktiv auf Leute zugehen und nur so kann Integration funktionieren. An seiner Schule können auch normalsehende Schüler beschult werden, zudem gibt es Projekte mit sehenden Schülern im Sportbereich oder bei der Arbeit im Schulgarten.

Nach diesem sehr informativen Gespräch erhielt ich die Möglichkeit, mir ein wenig die Schule anzuschauen. Der Rundgang startete in zwei Klassenzimmern, weiter ging es in die Turnhalle, wo gerade das Goalball-Training stattfand, in zwei Internatszimmer und in die Schulbücherei. Da es keine Bosnischen Blindenschriftdruckereien gibt, druckt die Schule in Eigenregie und stellt so die für die Schule als auch für den Freizeitbedarf benötigten Bücher selber her. Im Gegensatz zu unseren Blindenschriftbüchern, welche größtenteils in Kurzschrift (vergleichbar mit Stenografie) gedruckt werden, werden Punktschriftbücher auf Bosnisch in Vollschrift hergestellt.

Nach dem Schulrundgang ging es in ein nahegelegenes Café, denn ich bekam noch die Möglichkeit, mit Nadina, einer blinden Studentin aus Sarajevo, zu sprechen. Auch hier erfuhr ich einige interessante Details. Ihrer Meinung nach, sei die Stadt baulich zwar nicht barrierefrei, es gäbe viele Hindernisse, kleine Löcher im Bürgersteig, geklaute Gullideckel, parkende Autos und teils wilde Hunde, auf die man aufpassen muss, jedoch seien die Leute hier sehr zuvorkommend und hilfsbereit, so dass man sich – auch als Blinder – gut vorwärts bewegen kann. Was das Studium anbelangt, so bekam sie ausreichend Hilfe von ihren Professoren und auch von anderen Studenten, Materialien wie Blindenschriftmaschine nebst Papier und weitere Hilfestellungen erhielt sie von der Blindenschule.

Nach diesem Tag voller Eindrücke, Fragen und Informationen ging es für mich zurück zum Hostel. Ich wollte schnell mein neues Zimmer beziehen und mir dann ein Lokal fürs Abendessen suchen.

Ich ließ mich von einer der Rezeptionisten nach oben begleiten und mein Einzelzimmer mit eigenem Bad zeigen. Auch hier war die Einrichtung spartanisch, dafür war es sehr ruhig hier und ich hatte viel Platz.

Auf dem Weg nach unten zur Rezeption traf ich auf einige Studenten aus den USA, die mich mit vielen Fragen bombardierten. Jedoch hatte ich Hunger und brach hier schnell die Zelte ab.

Jedoch kam ich um diese vielen Fragen nicht ganz herum. Nach dem Abendessen kehrte ich ins Hostel zurück und stand, bevor es für mich gegen 22:30 Uhr ins Bett ging, Armina von der Rezeption sowie einigen der Studenten noch Rede und Antwort.

Für den nächsten Tag stand zunächst Entspannung auf dem Programm, bevor es dann auf Shoppingtour gehen würde…

Tagesnavigator


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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