Schon zu Beginn der Corona-Krise konnte man an vielen Stellen im Internet, aber auch in einschlägigen Lokalmedien lesenund hören, dass vor allem Menschen mit Behinderung besonders von der Corona-Krise und ihren Folgen betroffen seien. Dies ist sicherlich dann richtig, wenn – bedingt durch die Regelungen und Einschränkungen – der Alltag im wahrsten Sinne des Wortes „eingeschränkt“ würde, man beispielsweise nicht mehr ohne weiteres vor die Tür, zur Arbeit, zum Einkaufen oder sonst wo hinkäme.
Mit zu der Gruppierung der scheinbar stark Betroffenen gehören, mag man solch oben erwähnten Artikeln glauben, auch wir blinden bzw. hochgradig sehbehinderten Menschen. Weil wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind, weil wir mehr anfassen (müssen), als es der Otto-Normal-Bürger tut etc. Doch sind wir wirklich mehr gefährdet und haben Grund zur Sorge oder sind es wieder selbstgemachte „Probleme“, die viele von uns „jammern“ lassen?
Ganz nüchtern betrachtet, mögen viele Recht haben, wenn sie behaupten, blinde Menschen seien stärker von Einschränkung und Ausgrenzung durch die Coronapandemie betroffen. Wir können weder Abstand einschätzen, noch ihn vernünftig einhalten. Wir fassen alles mögliche an, ob Türgriff, Haltestange, Einkaufswagen, Geld, Kartenleser, Fahrstuhlknopf… bei genauerer Betrachtung dürfte jedoch auffallen, dass ein Großteil der eben genannten Dinge auch von Sehenden tagtäglich berührt wird, denn mit dem Blick allein lässt sich weder der Fahrstuhl rufen, noch die Tür öffnen oder der Einkaufswagen schieben. Und noch viele, weitere Dinge im alltäglichen Leben sind für den Sehenden nur durch bloßes Anfassen machbar; an diese denkt nur keiner mehr, es sind wir Blinden, die durch die Berührung einer Gefährdung ausgesetzt sind.
Was den Abstand anbelangt, so ist dies – wieder nüchtern betrachtet – zwar richtig, dass wir ihn weder einschätzen, noch oftmals richtig einhalten können. Aber auch hier gibt es ein großes ABER. Denn die meisten von uns sind mit Blindenstock unterwegs und haben so schon, ganz automatisch, einen Abstand zwischen sich un dder Person vor sich geschaffen. Dies sind zwar keine 1,5 Meter, aber besser, als gar nichts. Was rechts und links von einem passiert, geschweige denn wenn man den Atem desjenigen hinter sich schon im Nacken spürt, gefährdet dies uns gleich so sehr? Denn letzten Endes ist als eigentlicher „Schutz“ immer noch die Mund-Nasen-Bedeckung vorgesehen. Diese soll uns ja eben immer dann schützen, wenn es mit dem Abstand schwieriger wird bzw. werden könnte. Letztlich sind auch hier sowohl Sehende als auch Blinde gleichermaßen betroffen, denn wer es eilig hat, zur Arbeit zu kommen, wählt nun mal den vollen Bus; nicht jeder kann/darf zuhause bleiben.
Wo wir auch bei einem anderen, mehr als leidigen Thema wären: Ich selbst bin auch kein Freund der Maske, trage sie dennoch, ob nun beim Einkaufen oder im ÖPNV. Sie ist nervig, bei stickiger Luft habe auch ich manchmal das Gefühl, noch weniger luftholen zu können, aber wenn dies der zur Zeit nur mögliche Schritt ist, ein Stück weit „Alltag“ und – wie sie immer so schön genannt wird – „Normalität“ zurück zu bekommen, dann trage ich eben diesen Lappen, bevor ich deswegen gleich ganz zuhause bleibe. Viele mögen dies anders sehen. Im Internet liest man haarsträubende Kommentare, von wegen die Maske würde bei der Orientierung stören etc. Dass durch das Tragen der Maske jedoch die Brille beschlägt, habe ich von vielen, auch aus meinem Umfeld, schon gehört – scheint also doch was Wahres dran zu sein. Und wem die Maske arg zu sehr stört, der kann sich ja beim lokalen Blindenverein erkundigen, ob Menschen mit einer Behinderung im betreffenden Bundesland von der maskenpflicht ausgeschlossen sind. Ganz findige Leute gehen ja lieber gleich zum Arzt und lassen sich das nicht tragen müssen attestieren.
Was die Nutzung des ÖPNV angeht, so gehen auch hier die Meinungen entschieden auseinander. Zwischen „normalem“ Alltag und großer Angst und Unsicherheit scheint hier alles vertreten zu sein. Zwar mögen einige Bahnhöfe leerer sein als sonst, auch viele Züge sind es mit Sicherheit, aber diese geisterhafte Leere, welche zu Beginn des Lockdowns vielerorts herrschte, dürfte nur noch seltenst der Fall sein. Vor der Pandemie hätte ich auch gesagt, dass sich immer jemand findet, der einem bereitwillig weiterhelfen wird, jetzt sieht das scheinbar nicht mehr ganz so gut aus.
Aus eigener Erfahrung hier in Hamburg muss ich jedoch eines sagen: Wer Maske trägt, genießt bei vielen Mitmenschen scheinbar eine Art Vertrauensbonus. Bin ich draußen in der Stadt unterwegs, benötige einmal Hilfe, habe jedoch keine Schnodderbremse an, so geschah es nicht selten, dass ich Schwierigkeiten hatte, einen Passanten anzuhalten. Trug ich eine Maske, gingen die Leute offener und schneller auf mich zu und waren hilfsbereiter. Ein Eindruck, der täuscht und ich bin womöglich zur falschen Zeit an die falschen Leute geraten? Könnte man meinen, denn andere Blinde erzählen es fast umgekehrt, dass sie gerade jetzt mehr Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft etc. erleben. Ist Hilfsbereitschaft in Zeiten von Corona und Maske also mit regionalen Unterschieden verknüpft? Also doch ein Grund für die Maske?
Aber tatsächlich scheinen viele den Kontakt zu meiden. Jüngst auch hier in Hamburg hatte ich Schwierigkeiten, bei einer renommierten Bekleidungs-Handelskette Hilfe zu bekommen. Sie müssten den Abstand einhalten und dürften mich daher auch nur mit 1,5 M Sicherheitsabstand durch den Laden führen. Na klar, ich lasse mich, wie an einer unsichtbaren Leine gezogen, per Stimme im Slalong durch den Laden, zwischen den Kleiderständern durchlozen – mehr links, mehr rechts, mehr geradeaus, halt, zu weit, wieder zurück… Da halfen auch nicht die zitierte Führempfehlung des DBSV, hinter demjenigen zu laufen und mich mit der Hand an der Schulter zu orientieren. Eher hätte man mir angeboten, mich – ebenfalls wieder wie an der Leine – am Blindenstock zu führen. Nur dann wären wir wohl auch kaum durch die teils engen Gänge gekommen.
Not soll ja bekanntlich erfinderisch machen und – so durfte ich es mir auch schon oft anhören – man müsse dann halt nach neuen Alternativen suchen. Für vieles in unserem Alltag mag dies ja stimmen. Schlangen vorm Bäcker, die eigentlich keine mehr sind, weil alle 2 M voneinander entfernt stehen, Leute, die nicht sagen, ob und wo da überhaupt eine Schlange ist, Busse, die nur noch in der Mitte ihre Türen öffnen und und und… Hier gilt es aber nicht nur für uns, umzudenken und vielleicht einmal mehr nachzufragen. Wer nicht sagt, dass das Ende der Schlange 8 M weiter weg ist, darf sich am Ende auch nicht über den blinden Ladengast beschweren, wenn er sich – scheinbar dreist – vorgedrängelt hat. Nicht nur wir können reden, die Sehenden könnten es auch! Gleiches gilt für die Busproblematik. Natürlich könnten wir darauf bestehen, dass der Fahrer mal die Außenlautsprecher des busses einschaltet und die Linie durchsagt, wir können aber auch zur Not beharlich vorne klopfen, bis geöffnet wird, freundlich die Linie erfragen; beim nächsten Mal wird der Fahrer es besser wissen und auch machen. Wer sich beim Einkaufen nicht anfassen lassen möchte, auch nicht hinten an der Schulter, weil überängstliche Geschäftsführer es so verlangen, sollte sich (oder die Leitung) jedoch ernsthaft fragen, ob der Verkäuferjob in Zeiten von Corona überhaupt noch das „Richtige“ für ihn oder sie ist. Denn ob nun vom Kunden berührt oder selber beim Wegräumen das angefasst, was hundert Kunden zuvor schon in den Händen hielten, macht doch am Ende des Tages keinen all zu großen Unterschied.
Wir können aber auch weiter meckern und uns darüber auslassen, wie schlecht es uns zur Zeit geht, wie schwer wir es doch haben und wie stark auch – oder vor allem – uns diese Pandemie einschränkt. Alltag ist nicht einfach, weder vor noch gerade jetzt während der Einschränkungen, aber wir müssen selbigen nicht noch komplizierter machen, als eh schon geschehen. Natürlich gibt es an der einen oder anderen Stelle Dinge, die nervig sind, aber wenn ich immer wieder, auch in Artikeln, lese, wie schwer wir es doch haben und wie stark betroffen wir von Regelungen & co. doch sind, dann kriege ich – sorry – erst recht die Krise.