Kategorien
Artikel und Essays

Gedanken-Gänge 48 – Blogneustart mit kaputter Goldwaage oder: Wieso es mir aktuell schwerfällt, neue Essays zu schreiben

Es war gefühlt noch nie so leicht, sich (online) durch getane Äußerungen und Meinungen derart die virtuelle Zunge zu verbrennen, als in diesem Jahr. Und normalerweise bin ich auch in meinem privaten Blog um kein Wort verlegen, schreibe, wie und was ich denke. Aber in Zeiten der Goldwaage, wo gefühlt (der Eindruck mag ja auch täuschen) jedes Bisschen Meinung zerrissen und totargumentiert wird, fällt es auch irgendwann einem Blogger schwer, neue Anreize des Bloggens für sich zu entdecken, weiter über Themen zu schreiben, sich kritisch mit Dingen auseinanderzusetzen. Etwas, das mir vor ein paar Jahren noch sehr viel Spaß bereitete, fällt mir in diesen Zeiten schwerer denn je. Zu sagen gäbe es genug, keine Frage. Aber wenn du nur noch damit rechnen musst, irgendjemandem da draußen gehörig auf dem Schlips zu treten, überlegst du es dir inzwischen zweimal: Schreibe ich etwas oder lieber nicht?

Es wurden im letzten Jahr Dinge (vor allem in den sozialen Medien) ausdiskutiert, bei denen ich mich ernsthaft fragte: Haben wir derzeit keine anderen Sorgen? Geht es uns nicht eigentlich doch viel zu gut, dass wir es schaffen, uns über so Merkwürdigkeiten wie „positive Diskriminierung“ Gedanken zu machen oder darüber, ob ein Ballermannschlager Gefühle verletzt und das Nachspielen gewisser Musikstile (inkl. der dazu passenden Verkleidungen und Frisuren) kulturell anmaßend ist? Ein Großteil sagt „ja“, wir müssen uns unbedingt damit auseinandersetzen! Spannenderweise lese ich jedoch immer Äußerungen dazu von Leuten, die es eben „nicht“ betrifft, die sich aber quasi zum Richter für die scheinbar ungerecht Behandelten beförderten. Und wenn es Meinungen und Äußerungen aus den Betroffenenreihen gab, waren diese mit unter so dermaßen festgefahren: Wir sollen empfänglich sein, unser Denken zu ändern… aber Moment mal: Teilnahme und Integration von wem oder was auch immer ist keine Einbahnstraße und wird es auch nie sein. Verletzt zu werden ist somit die eine Seite. Ich habe jedoch das Gefühl, dass uns immer mehr Dinge verletzen, wir immer dünnhäutiger werden und da darf die Frage angebracht sein, woher das kommt und ob das wirklich so begrüßenswert ist? Böse gesagt wollen wir einerseits Gleichberechtigung und Gleichbehandlung in sämtlichen Belangen, heben aber bei so Grundsatzdiskussionen immer uns wegen unseres Geschlechts, unserer Herkunft oder unserer Behinderung hervor.

Und wenn ich dann einmal (hinter)fragte, ob Verhalten oder Äußerung X-Y wirklich so verletzend war, folgte gern das Pauschal-Gegenargument „Du bist noch nicht sensibilisiert genug!“
Das neueste Argument, wenn man dem Hype um übermäßigem Gebrauch von Political Correctness nicht folgt: Man sei noch nicht sensibel genug oder würde keine Leute in seinem Umfeld haben, die einem sensibilisieren. Zugegeben, Letzteres mag ja durchaus auch stimmen. Oder ich habe eben (noch) Leute in meinem persönlichen Umfeld, die sich eben nicht wegen jedem falschen Wort gekränkt, wegen einem fehlenden Sternchen oder Binnen-I nicht angesprochen,wegen Verkleidungen kulturell „hintergangen“ oder wegen einem schlüpfrigen Wort, Witz (oder Song) sexuell belästigt fühlen. Sind wir alle somit völlig emotional abgestumpft bzw. einfach auch noch nicht sensibel genug oder ist bei uns allen schlichtweg die Goldwaage kaputt?

Vor längerer Zeit hatte ich bereits über „positive Diskriminierung“ geschrieben, auch einem der neuesten Auswüchse, wenn es darum geht, sich „diskriminiert“ oder „verletzt“ zu fühlen. Auch ein „Trend“, dem ich absolut nicht folgen kann und auch nicht will. Einerseits, weil ich nicht so fühle und andererseits allein schon deswegen, weil ich es persönlich nicht mag, wenn man kleinkrämerisch jedes Wort wortwörtlich nimmt.

Manchmal glaube ich, wir haben durch Corona & co verlernt, uns selbst nicht immer ganz so wichtig zu nehmen, auch mal über uns (UND AUCH UNSERE BEHINDERUNG; GESCHLECHT ODER HAARFARBE) zu lachen. Nicht jeder von uns ist grundlegend böse und auch nicht jeder noch so dumme Witz, Verkleidung oder was auch immer anmaßend.

Wir nehmen Sprache heute scheinbar auch wichtiger denn je. Alles, was irgendwo „gesagt“ wird, muss gut überlegt, korrekt gegendert und auf etweilige Diskriminierungen geprüft werden. Sonst läuft man Gefahr, irgendjemanden da draußen durch Unbedacht zu verletzen. Dank der Dünnhäutigkeit – so hat es den Anschein – sind diese „Verletzungen“ gravierender, als sie es vielleicht noch vor ein paar Jahren gewesen wären. Sarkasmus sollte im schlimmstenfall bei Kommentaren (im Netz) inzwischen besser angekündigt werden, um weiteren „Schaden“ (in Form von dann wirklich bösen Kommentaren) abzuwenden. Darum fällt es mir im Moment so schwer, weiter dem Hobby des Bloggens nachzugehen!

Meine Goldwaage ist somit definitiv kaputt! Ich habe aber auch nicht das Verlangen, sie reparieren zu lassen. Man mag mir jetzt dieses Einbahnstraßendenken vorwerfen, das ich oben bereits den „Verletzten“ attestiert hatte. Aber ich sehe Diskriminierung eben nicht nur ausschließlich – wie es derzeit auf mich bei vielen Menschen da draußen den Anschein hat – in gesagten Dingen oder geschriebenen Worten, sondern fühle mich eher diskriminiert oder ausgegrenzt, weil ich aktiv an irgendetwas nicht teilnehmen kann, mir Dinge aufgrund was auch immer verwährt bleiben, ich Chancen nicht nutzen kann etc. und nicht, weil irgendjemandem das richtige Wort fehlt und er stattdessen ein „Falsches“ dafür benutzt.


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.