Stellt Euch doch einmal folgende Situationen vor: Ihr wollt Euch in ein Straßencafé setzen und etwas trinken, es gibt mehrere Tische, an denen noch ein oder mehrere Plätze frei sind und auch ein komplett freier Vierertisch – welchen nehmt Ihr? Gleiches Szenario in einer U-Bahn oder einem Zug, viele Zweierreihen mit einem freien Platz und ein freier Vierer – für was entscheidet Ihr Euch? Jemand spricht Euch auf offener Straße an, fragt Euch nach Eurem Tag, versucht einfach, ins Gespräch mit Euch zu kommen – wie reagiert und was antwortet Ihr?
Das wirklich Erschreckende ist, dass ich – ohne, dass ich im Vorwege wirklich weiß, wer diesen Beitrag lesen wird – sagen kann, wie ein Gros der Antworten ausfallen wird: „Ich nehme den freien Tisch bzw. den freien Vierersitz“ bzw. „Ich reagiere ggf. gar nicht und gehe weiter oder, ich sage demjenigen, dass es ihn nichts angeht, was ich mache, woher ich komme etc.“ – habe ich Recht? Wenn ja, warum nur?
Ich habe auf meinen zahlreichen Städtetouren, als auch hier in Hamburg, viele Menschen beobachtet und beobachte mich auch oftmals selbst. Was ich feststelle, erschreckt mich zutiefst und macht mich doch sehr nachdenklich: Ist unser persönlicher Dunstkreis in Deutschland so eng gesteckt, dass wir nichts und niemanden Fremdes eintreten lassen? Haben wir es verlernt, aufeinander zuzugehen, uns ungezwungen mit uns fremden Personen zu unterhalten? Warum fühlen wir uns gleich persönlich angegriffen, wenn wir geduzt werden? Warum wahren wir dermaßen die Form und brechen nicht einmal aus?
Wenn man mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu tun hat oder in einem kulturell vielfältigen Stadtteil wohnt, wird einem das Ausmaß dieser Misere erst so wirklich bewusst. Und auch wenn ich einmal in die Vergangenheit blicke, so stelle ich fest, dass wir früher (15-20 Jahre her) auch scheinbar mehr miteinander gesprochen haben.
Es gibt hierzulande ungeschriebene Gesetze, die besagen, dass man sich eben nirgends dazusetzt, wenn woanders noch freie Plätze verfügbar sind. Selbiges Gesetz scheint auch zu bestimmen, dass man sich höflich zurück zuhalten hat, niemanden nach Herkunft, Gesundheit, Tagesablauf, ja geschweige denn nach dem Namen zu fragen hat. Das einfache Ansprechen ist höflich voranzukündigen („entschuldigen sie, dass ich Sie anspreche… bla bla bla“). Ebenfalls wäre dort zu lesen, dass bei einer Verabschiedung lediglich die Hand zu reichen ist, wenn man sich noch nicht lange kennt – anders, als es z. B. in Ländern wie Spanien oder Portugal üblich ist, wo auch eher fremde Menschen durchaus zum Abschied mal umarmt werden könnten. „Um Gottes Willen!“, werden einige Leser jetzt aufschreien, „ein Glück ist das alles so!“ Doch, was wäre, wenn es nicht so ist? Wäre es so schlimm? Würdet Ihr Euch in Eurer Privatsphäre gestört, wenn nicht sogar gekränkt fühlen? Fühlt Ihr Euch etwa unwohl, wenn Ihr – einfach so – angesprochen werdet? Habt Ihr auch Angst, der andere könnte Euch was böses wollen? Ja? Dann willkommen in Deutschland!
Andere Länder, andere Sitten?
Kann man den Umgang mit Menschen, die Toleranz gegenüber Personengruppen und die offene Kommunikation untereinander wirklich so einfach mit dem kulturellen Hintergrund begründen und so einfach bei Seite wischen?
Streckenweise scheint es wirklich so, als würde es Bewohnern anderer Länder leichter fallen, diese Privatssphärenhürde zu überwinden. Es mag die rosarote Brille des Rucksacktouristen sein, die mich zu dieser Ansicht führt, aber nichts desto trotz hatte ich bei meinen Reisen durch Skandinavien, nach London, Budapest oder auch Prag das Gefühl, dass Menschen offener mit ihrem Interesse für fremde Personen umgehen können. Hier stört es keinen, wenn man gefragt wird, woher man kommt, was man bislang so erlebt hat und auch die Frage hinsichtlich eines Handikaps (in meinem Fall Blindheit) brach den Fragenden keinen Zacken aus der Krone oder führte zu Schweißausbrüchen, weil man sich mit der Angst auseinandersetzen musste, etwas „falsches“ fragen oder sagen zu können.
Den US-Amerikanern attestieren viele ja Oberflächlichkeit, wenn sie fragen, wie es einem geht, weil sie die Antwort eigentlich gar nicht interessiert. Das macht rein gar nichts, der Wille in Kontakt zu treten alleine zählt.
Und auch ein Freund von mir, welcher ein halbes Jahr in der Türkei gelebt und studiert hat, berichtete, dass sich das Miteinander teils stark von hiesigen Gepflogenheiten unterschied.
Fragt man viele Deutsche, z. B. während man gemeinsam auf den Bus wartet o. Ä., wie so ihr Tag war, woher sie kommen etc., so darf man sich nicht über Teils schroffere Zurückweisungen wundern. Sätze, wie „Was geht’n dich das an?!“ oder „Warum willst du das wissen? Kennen wir uns? Haben wir gemeinsam im Sandkasten gespielt?“ sind da leider keine Seltenheit mehr.
Verlernen wir, zu reden?
Viele schieben die mangelnde Kommunikationsfähigkeit – wie sollte es auch anders sein – auf die neuen, digitalen Medien wie Smartphones, Tablets etc. Dies mag zum Teil stimmen, bedenkt man, wie viele Menschen im Sitzen, beim Laufen, im Café oder der Bahn ihren ständigen Begleiter in der Hand halten. Jedoch können diese Helferlein für die Sprech-Mich-Nicht-An-Barriere nicht die alleinige Ursache für das Debakel sein, denn in den Neunzigern und frühen Zweitausendern waren es Bücher, Diskmans bzw. Walkmans, Gameboys oder andere Spielereien, die man mit sich führte – natürlich auch, um sich die Zeit zu vertreiben und um Langeweile vorzubeugen. Doch wer weiß, ob der Smartphonespieler nicht doch Lust zu einer Unterhaltung hätte, wenn man ihn doch nur fragen würde!
Aber generell scheint Reden so ein Problem für sich zu sein. Viele reden scheinbar nicht gerne, ob nun zu Hause, auf der Arbeit in der Pause, in der Bahn oder sonst wo. Man hängt nur noch seinen Gedanken oder den Zeilen auf dem Smartphone nach. Man kann es noch nicht einmal jemandem verübeln. Versucht man nämlich auszubrechen und es einmal anders zu machen, wird man ja eh meist wieder in die Schranken bzw. hinter die unsichtbaren Privatssphärenbarrieren verwiesen.
Und auch dort, wo es wichtig ist zu reden, am Telefon nämlich, versagt uns scheinbar immer mehr die Stimme. Am Telefon wird kaum mehr was geklärt, lieber schreibt man zehnmal hin und her, bis der Treffpunkt endlich feststeht. Wen wundert’s, wird man doch – in Deutscher Manier – im geschäftlichen Bereich ja förmlich darauf getrimmt, nichts am Telefon zu besprechen („Oh…äh… schicken Sie mir das bitte per Mail!“).
In einem Blogbeitrag zum Thema ist die berechtigte Frage zu lesen: „Wie viel persönlicher, oder zumindest auditiver Kontakt ist für uns als Menschen wirklich notwendig? Oder wandeln wir uns in ein praktisch nur schreibendes Wesen und werden glücklich damit? Oder aber werden darunter unsere Beziehungen leiden? Werden wir dann weniger übereinander erfahren, weniger emotional verbunden sein, wird uns menschliche Wärme fehlen?“
Ein Lichtblick, man glaubt es kaum, sind hier oft noch kleine Kinder. Sie jucken Anstand, Etikette und hiesige Umgangsformen nicht. Hier wird drauf losgegangen, geduzt, gefragt, was das Zeug hält… so lange, bis die Mutti kommt und dem kleinen Fragenden Einhalt gebietet. Eher unschön ist es, wenn Kinder ihren Eltern Löcher in den Bauch fragen, die Eltern (z. B. wieder beim Thema Blindheit) beschämt zu Boden schauen und auf die einfache Frage, wofür man den weißen Stock braucht, keine Antwort wissen. Sie ermutigen den kleinen Fragesteller jedoch leider auch nicht, seine Fragen an Ort und Stelle loszuwerden und vertrösten ihn lieber auf später. Von dieser kindlichen Unbefangenheit, die übrigens auch manch Mensch mit Lern- oder geistiger Behinderung mitbringt, können wir viel lernen. Sie ist einerseits erfrischend anders, irritiert aber die meisten ungemein. Dabei ist Reden nichts neues, außergewöhnliches. Wenn wir in geselliger Runde sind, reden wir doch auch – meistens – miteinander. Und nur, weil wir den anderen nicht kennen, halten wir an uns und schweigen uns zu Tode?
Jemand sagte mal zu mir, er könne ja neue Leute nur noch im Internet kennenlernen, weil man ja draußen keine vernünftigen Leute mehr trifft! Falsch! Man lernt auch niemanden kennen, wenn man auf ewig schweigt oder, weil einem Blick, Körperhaltung, Klamotten oder ich weiß nicht was nicht in den Kram passen, nicht den ersten Schritt wagt.
Skuril ist ja, dass – enthemmt durch Alkohol – auf Partys, in der Disco etc., das Ansprechen doch gar nicht so schwer fällt. Warum dann nicht auch im Alltag, im „Normalzustand“? Wenn man mal wieder auf einen Kaffee irgendwo platznehmen möchte, bietet man am Ende lieber dem ebenfalls sprachlosen Rucksack den zweiten Platz am Tisch an, statts einem anderen, jedoch fremden Gast.
Zum Schluss noch mal etwas zum Nachdenken: Geschätzt 50% der Menschen, die ich als Blinder auf der Straße, in der Bahn oder sonst wo anspreche, weil ich z. B. eine Information oder Hilfe benötige, hättet Ihr Sehenden nie im Leben angesprochen. Denn nicht nur die mangelnde Fähigkeit, miteinander zu reden, erschwert uns das Kommunizieren – es sind vor allem auch unsere ewigen Vorurteile, Vorbehalte und Ängste gegenüber anderen, welcher Ausprägung auch immer, die uns oftmals zum Schweigen verurteilen.