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Gedanken-Gänge X – Bei (Sicherheits-)Risiken und Nebenwirkungen… oder: Brauchen wir wirklich mehr „Barrierefreiheit“?

In einer Diskussion mit russischen Blinden wurde ich vor kurzem gefragt, was eigentlich Barrierefreiheit bedeutet. Wann ist ein Ort, ein Platz, ein Dokument barrierefrei?

In Deutscher Manier stürzte ich mich sogleich auf die vorherrschenden Definitionen und Regelungen und erklärte, dass ein Ort dann barrierefrei ist, wenn es Menschen mit unterschiedlichen Belangen (z. B. Handikaps) möglich ist, diesen aufzusuchen. Wenn es z. B. einen Fahrstuhl gibt, in dem sogar die Tasten noch mit Großdruck oder Blindenschrift versehen sind, wenn es an einem Bahnsteig z. B. ein Leitsystem gibt, welches mit dem Blindenstock erfasst werden kann, oder, im Falle von Dokumenten und Inhalten, wenn sie ebenfalls so aufbereitet wurden, dass sie für verschiedenste Personengruppen uneingeschränkt nutzbar sind.

Man widersprach mir mit Nachdruck und fragte, warum ich Barrierefreiheit so ausschließlich an den örtlichen Gegebenheiten festmachen würde? Nach ihrer Auffassung sei ein Platz, ein Ort oder was auch immer dann barrierefrei, wenn jemand mit Einschränkung es nutzt und es ist dabei egal, wie er es nutzt. Wenn ein Rollifahrer trotz Bürgersteige und der Blinde ohne akustischem Ampelsignal die Straße überquert und beide somit an ihr Ziel gelangen, wenn jemand mit Hilfe ein Dokument vorgelesen bekommt und/oder ausfüllt, wenn sich ein Blinder in einem Restaurant die Speisekarte vorlesen lässt, weil’s keine Karte in Blindenschrift gibt, sind doch all diese Dinge im Grunde barrierefrei. Die Ziele wurden doch erreicht, sonst wäre es nicht barrierefrei!

Dieser Gedankengang regte mich ein wenig zum Grübeln an und ich frage mich, ob wir nicht zu stark über-fordern? Wir verlangen förmlich, dass sämtliche Dinge des alltäglichen Lebens ohne Barrieren sind, haben diese Dinge auch entsprechend in zahlreichen Gesetzen verankert. Nur stellt sich mir nach der eben angeführten Begründung die Frage, ob es sich an manchen Stellen nicht leichter leben ließe, wenn wir nicht immer auf unsere Paragraphen und Forderungen pochen würden?

Denn was man mir mit dieser Ansicht auch zu verstehen geben versuchte war, dass Barrierefreiheit scheinbar nicht nur etwas ist, dass durch äußere Einflüsse gesteuert werden kann (Rollirampe, Beschriftungen, Signale etc.), sondern auch zum Großteil von uns Menschen mit Handikap abhängt. Wie gehen wir mit einer Situation um. Was können wir tun, um der Situation Herr zu werden und doch an unser gewünschtes Ziel zu kommen, ohne sogleich Forderungen an die Gesellschaft oder die Politik zu stellen?

Oft wurde ich bezüglich meiner unternommenen Reisen gefragt, ob und inwieweit andere Städte, ob nun in Deutschland oder im Ausland, „blindenfreundlicher“ seien? Für manche Städte konnte ich dies bejahen. Im Grunde war es mir jedoch auch egal. Es war weder Ausschluss- noch Besuchskriterium, ob eine Stadt nun mehr oder weniger barrierefrei war. Denn schließlich haben wir einen Mund zum Sprechen, um eventuell auftretende Barrieren für uns aus dem Weg zu räumen.

Barrierefreiheit hat, nach meinem persönlichen Empfinden, jedoch auch etwas mit der Einstellung der Gesellschaft zu tun. Was nützen einem bauliche Maßnahmen in öffentlichen Räumen, viele Gesetze und Verordnungen, wenn wir hier in Deutschland noch all zu sehr auf Sicherheit bedacht sind? Während man als Blinder in Skandinavien scheinbar tun und lassen kann, was man will, werden einem hier noch zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Ich glaube nicht, dass man als Blinder allein, ohne Begleitung, einen Freizeitpark in Deutschland besuchen und auch die dortigen Fahrgeschäfte nutzen dürfte. Dies durfte ich während meines Kopenhagen-Aufenthalts im Tivoli erleben. Wie mir am Eingang an der Kasse in knappen Worten gesagt wurde, würde ich Hilfe bekommen, wenn ich sie einfordere und wäre ich nicht im Mindestmaß mobil, um mich in so einer größeren Anlage frei zu bewegen, wäre ich schließlich nicht dort.

Doch ginge so etwas auch hier bei uns? Zu groß wäre sicherlich die Angst der Betreiber, dass mit uns armen, blinden Besuchern etwas passieren könnte. Sie sichern sich so gegen mögliche (und unmögliche) Unfälle und vor allem auch gegen schlechte Publicity und eventuelle Schadensersatzklagen ab. Wir eifern schließlich unserem großen Bruder Amerika in vielerlei Hinsicht nach und ziehen zum Teil wegen jedem kleinen Wehwehchen vor Gericht, um unsere Rechte einzufordern bzw. einzuklagen.

Ein Punkt, in dem sich auch bei uns langsam Barrieren abbauen, ist in Museen und Ausstellungen. Auch hier kann man, so man es sich alleine zutraut, zum Teil auch ohne Begleitung Museen und Ausstellungen besuchen und sich entweder anhand eines Audio-Guides oder mit Hilfe anderer Besucher quasi leiten lassen.

Ein anderes Negativbeispiel. Jedes Jahr, zur Freibad-Saison, kann man von blinden Müttern lesen, die mit ihren (sehenden) Töchtern nicht ins Freibad dürfen, weil, so die Begründung der Betreiber, die sehenden Kinder ja auf die blinde Mutter achtgeben müssten und nicht umgekehrt, wie es eigentlich richtig wäre.

Generell überrascht es mich immer wieder, wie häufig Leute uns sagen wollen, wann und wie wir Hilfe benötigen, was wir alleine bewältigen können und was nicht, wo wir eine Begleitung benötigen und wo nicht. Ein bisschen mehr Offenheit und Feingefühl für die Belange des einzelnen, anstatt zu pauschalisieren und alle in einen Sack zu stecken, wäre hier wünschenswert.

Denn ich möchte mir als Blinder nicht sagen lassen, was ich kann und was ich (aufgrund meiner Blindheit) darf. Ich möchte dies selber entscheiden, so wie ich es auch in anderen Ländern entscheiden kann und darf. Aber wie sagt man doch so schön: Andere Länder, andere Sitten?

Das schlimme daran ist noch nicht einmal die Tatsache, dass die Betreiber von Freizeitbädern und –Parks oder allgemein von öffentlichen Einrichtungen und Attraktionen so reagieren, sicher sind sie oftmals einfach nur mit der Situation überfordert. Schlimm ist, dass es aus unseren Kreisen noch genug Personen gibt, die dieses Verhalten akzeptieren und „verstehen“ können. Sie finden sich scheinbar damit ab, dass uns Leute Barrieren in den Weg stellen. Denn wenn es diese nicht gäbe, wäre vieles wirklich barrierefrei und nicht, weil irgendwo der Bürgersteig abgesenkt ist und die Ampel piept, wenn’s Grün wird.

Es verhält sich doch irgendwie wie bei einem Truck im Geländerennen. Umso besser das Fahrzeug und die Person am Steuer mit der Situation umgehen kann, desto schwieriger kann die Situation auch sein.

Senken wir jedoch alle „Bordsteine“ in unseren Köpfen so ab, dass wir bald auch die kleinsten Barrieren nicht mehr überwinden können, verlieren wir eben diese Bergsteigerfähigkeiten. Ziel darf es ja bleiben, wirklich unnötige Dinge abzuschaffen, die vor allem nicht nur einem relativ geringen Teil der Bevölkerung weiterhelfen, sondern einfach mal nahezu jedem. Wer hat schon etwas gegen größere Knöpfe in Fahrstühlen oder abgesenkte Bordsteine an Übergängen? Der Blick auf die Bereitschaft zu individuellen Lösungen und vor allem dem Vertrauen in die Fähigkeiten betroffener Personen kommt auch gut raus. Eine blinde Mutter würde ja nicht mit ihrer sehenden Tochter ins Freibad gehen, wenn sie nicht weiß, dass sie es zusammen mit ihrem Kind bewältigt bekommt und dass ihr Kind verantwortungsvoll genug ist mit dieser Situation umzugehen. Wir sprechen hier ja vielleicht nicht gerade von Säuglingen.

Und all die anderen Blinden, die, wie der Truck im Geländerennen, selbst für sich entscheiden, sich auf „unwegsames“ Gelände zu wagen, würden dies doch sicherlich nicht tun, wenn sie sich dies nicht in einem Mindesmaß zutrauen würden. Sie überwinden somit scheinbar vorhandene Barrieren. Warum dann solchen Menschen durch Regeln, Paragraphen und Verordnungen erstellte Barrieren in den Weg gestellt und somit für diese Personen quasi von oben herab entschieden wird, was für sie am sichersten, besten, erreichbarsten, am leistbarsten und am zumutbarsten ist, erschließt sich mir nicht; als würde man einem Pferd sagen, wie hoch es maximal springen darf – höhere Barrieren sind nicht erlaubt.

Diese und die Tatsache, dass es genug Menschen mit Handikap gibt, die dieses Verhalten akzeptieren, ja, die sogar noch mehr Regelungen fordern, ist für mich wahrlich ein Buch mit sieben Siegeln.

Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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