Die folgende Hörspielanalyse entstand im Rahmen eines Seminars zum Thema „Erzähltheorien und Medien“ im Sommersemester 2010 an der Universität Hamburg.
Einleitung
Wenn man sich in der Medien- und Literaturwissenschaft in der Vergangenheit mit Hörspielen inhaltlich (d. h. narratologisch) auseinandergesetzt hat, so geschah dies meist anhand von Analyseansätzen, welche den Text (das, was die Figuren sprechen) in den Mittelpunkt stellen. Doch wo in der Literaturwissenschaft nach der Textsorte, der Fokalisierung und der Rolle der Figuren und des Erzählers gefragt wird, gäbe es im Hörspiel weitaus mehr Punkte, die einer Analyse bedürfen, welche weit über den rein literarischen Analyseansatz hinaus gehen. Denn Ton, Klang und Musik, Geräusche und akustische Räume tragen bei audiovisuellen Medien zur Erzählstruktur bei. Nicht umsonst wird auch beim Film häufig großen Wert auf das Sounddesign gelegt.
Der Sound, also das akustische in den Medien, wurde jedoch bislang in vielerlei (wissenschaftlicher) Hinsicht vernachlässigt. So ist beispielsweise in der Medienwissenschaft die Auseinandersetzung mit der Tonspur im Film nur spärlich gesät. Ton wird meist als gesamten Komplex verstanden, der im engen Zusammenhang mit dem Bild zu sehen ist. Es „geistert bis heute in filmwissenschaftlichen Texten das Vorurteil herum, dass Töne ohne das Bild ihrer Quelle nicht oder nur beschränkt identifiziert werden könnten, sogar in Texten, die sich ausschließlich mit der Tonspur befassen“. (Flückiger 2002: 111) Dies ist sehr bedenklich, da doch „Geräusche sehr viel direkter und präziser als Bilder in die für die Erregung von Gefühlen zuständigen Hirnregionen hineinzielen“. (Segeberg 2005: 10)
Für das Hörspiel bedeutet dies, dass es nicht nur gilt, den rein sprachlichen Aspekt der erzählten Geschichte zu analysieren. So stellt Elke Huwiler in ihrem Aufsatz zur Hörspielnarratologie fest: „Dass auch in modernen Hörspielen vorwiegend Geschichten erzählt werden, und zwar mit Hilfe aller dem Medium verfügbaren Mittel, ist in der Hörspielpraxis unbestritten […] Umso erstaunlicher – und lediglich durch die […] Entwicklungslinien zu erklären – ist die Abwesenheit von Forschungsansätzen in der Hörspieltheorie, die sich mit diesem offensichtlichen Potential narrativer Bedeutungsgenerierung in Hörspielen auseinandersetzen.“ (Huwiler 2005: 293)
Im folgenden Beitrag soll mit Hilfe des von Elke Huwiler skizzierten narratologischen Analyseansatzes für das Hörspiel versucht werden, exemplarisch eine Analyse zweier Folgen des Hörspiels „Otherland“ (Folgen 7 und 8) durchzuführen. „Otherland“ stellt in mehreren Punkten eine Ausnahmesituation in der Hörspiellandschaft dar und bietet sich unter anderem aufgrund der komplexen Erzählstruktur und der akustischen Ausgestaltung für eine Analyse an.
In einem ersten Schritt soll eine kompakte Einordnung des Stücks in die Hörspielgeschichte vorgenommen und auf die dramaturgischen Veränderungen im Bereich (Radio-)Hörspiel in den letzten Jahren eingegangen werden, bevor der für die Hörspielanalyse zugrunde liegende Ansatz erläutert und im Anschluss eine Analyse der genannten Folgen durchgeführt werden soll.
Abschließend sollen die Analyseergebnisse zusammengefasst und weitere Interessensgebiete für weitere Analysen skizziert werden.
Exkurs Hörspielgeschichte
Bevor es nun im weiteren Verlauf dieser Arbeit darum gehen wird, den theoretischen Rahmen meiner Hörspielanalyse festzulegen und auf das Hörspiel „Otherland“ anzuwenden, soll in komprimierter Form auf die Veränderungen der Erzählstrukturen im deutschen (Radio-)Hörspiel eingegangen werden.
Hörspiel war bis Anfang der 70er Jahre, bedingt auch durch die im Vergleich zu heute einfacheren, analogen technischen Mitteln zum größten Teil sprachzentriert. Die Sprecher und ihre Rollen, der gesprochene Text standen im Mittelpunkt der Hörstücke. Geräusche und Musik wurden vergleichsweise spärlich eingesetzt und dienten lediglich als Untermalung; den hohen Stellenwert, den heutzutage dem aufwendigen Sound eines Hörspiels, bestehend aus Sprache, Geräusch und Musik hat, wurde den damaligen Hörspielproduktionen nicht zugeschrieben. Erst durch Aufkommen der stereophonen Klangkunst ab Mitte der 60er Jahre, der Simulation von imaginären Räumen (Kunstkopf-Stereo) ab Mitte der 70er Jahre und der Entstehung des sog. „neuen Hörspiels“, wuchs das Interesse Seitens der Dramaturgen, Autoren und Regisseure, die Gestaltungsmöglichkeiten des Hörspiels weiter auszubauen. „Auch wenn Musik und Geräusch als Gestaltungsmittel des Hörspiels aufgewertet werden, steht die Sprache hier zunächst weiterhin im Mittelpunkt“. (Schätzlein 2006) Klangkunst, Feature und ähnliche Formen konnten sich zu dieser Zeit immer mehr in den Programmen etablieren.
Spätestens durch die Einführung des dualen Rundfunksystems, der Einführung und den Möglichkeiten digitaler Technik und der Möglichkeit, Hörspiele auf Tonträger zu veröffentlichen und auf dem Hörspielmarkt, auf dem bis dato lediglich rein kommerzielle Hörspielproduktionen (von z. B. Europa, Maritim oder Deutsche Grammophon) vertrieben wurden, zu platzieren, wurde das Radio-Hörspiel einer breiteren Hörermasse zugänglich gemacht. Mit Weiterentwicklung des Hörspiels und der immer zunehmenden Vermarktung nach außen, änderte sich auch das Berufsbild und der Begriff des Dramaturgen. „Er meint zum einen als Ableitung aus der Dramentheorie den Aufbau, die Gestaltung(sregeln) und die Ästhetik des Hörspiels; zum anderen aber auch die konzeptionelle, redaktionelle Arbeit der Dramaturginnen und Dramaturgen der ARD-Hörspielabteilungen (inklusive Öffentlichkeitsarbeit und Marketing)“. (Schätzlein 2006) Gleichzeitig konnte sich das reine Klangspiel, Gattungen wie „Pophörspiel“ oder „Audio Art“ immer weiter entwickeln, sodass (geprägt auch durch Autoren wie Andreas Ammer/FM Einheit) Hörstücke entstanden, in welchen lediglich mit Schnipsel und Samples, Musik und Soundcollagen und weniger mit einem Sprecher gearbeitet wurden.
Das Hörspiel obliegt nun nicht mehr allein dem Radio, spätestens mit der Etablierung digitaler Techniken und Tonträgern wie der CD, traten noch weitere Akteure in Erscheinung. Das Bild einer Hörspielredaktion und ihre Aufgaben veränderten sich – so schreibt Frank Schätzlein in seinem Aufsatz zur Veränderung in der Hörspieldramaturgie: „Das Radio ist hier in der Regel zwar das erste, aber nicht mehr das einzige Medium für Hörspielkunst. Neben das Radioprogramm treten die Online- und Live-Präsentation und die Vermarktung bzw. ‚Zweitverwertung’ auf Tonträger (im Idealfall haben auch solche CD-Reihen ein spezifisches künstlerisches oder thematisches Profil und eine eigene Zielgruppe; zumindest im Sinne der Profilbildung einer Redaktion bzw. Dramaturgie sollten sie also nicht ausschließlich dazu dienen, Material aus dem Schallarchiv oder ‚Klassiker’ und ‚Straßenfeger’ eines Senders aus rein ökonomischen Gründen zu vermarkten). Die Produzenten arbeiten je nach den technisch-künstlerischen Anforderungen und der Arbeitsweise der jeweils Beteiligten entweder in den Hörspielstudios der ARD, zu Hause am eigenen Computer, in spezialisierten Tonstudios oder auf der Bühne. Zu den Aufgaben der Redaktion gehört dabei, nicht nur Autoren, sondern auch Komponisten, Musiker, Schauspieler, Theatermacher, Netzkünstler und bildende Künstler miteinander zu vernetzen und ihnen einen Freiraum zu geben, in dem sie ihre Vorstellungen von Hörspiel, Klang-, Radio- und Medienkunst umsetzen können.“ (Schätzlein 2006)
Hörspielnarratologie. Theoretischer Rahmen zur Analyse des Hörspiels „Otherland“
Die vorangegangene Beschreibung der Entwicklung des Radiohörspiels wirft die Frage auf, in wieweit und mit welchen narratologischen Mitteln sich ein Hörstück analysieren lässt, um allen akustischen Stilmitteln und vermittelten Erzählstrukturen gerecht zu werden. Reichen die in der Literaturwissenschaft angewandten Analysemodelle (beispielsweise von Genette), um ein komplexes akustisches Werk zu analysieren?
Die in der Literaturwissenschaft angewandten Modelle zur Text- und Erzählstrukturenanalyse betrachten den „Text“ als solches und fragen vorwiegend nach der Form des Textes, der Art der Erzählung (z. B. interne oder externe Fokalisierung). Dies reicht jedoch nicht aus, um akustische Texte zu analysieren. So schreibt Elke Huwiler: „Bei der Untersuchung der Narrativität von Hörspielen ist von einer intermedial ausgerichteten Erzähltheorie auszugehen, welche über die üblichen Textsorten hinausgeht. […]Beim Hörspiel handelt es sich um eine Kunstform, die über einen akustischen Vermittlungskanal die Rezipierenden erreicht. Durch Wortbildungen mit semanti¬schem Gehalt in Dialogen und Monologen wird auch hier verbal Bedeutung generiert, doch daneben kommt eine Vielzahl von nichtsprachlichen Elementen zum Einsatz, und es wird hier davon ausgegangen, dass diese ebenfalls bedeutungsgenerierende Funktionen übernehmen können.“ (Huwiler 2005: 294)
Zu den nonverbalen Elementen, die Elke Huwiler in ihrem Aufsatz anspricht, zählen unter anderem Musik, Stille oder Geräusche. Barbara Flückiger widmete in ihrem Buch über „Sounddesign im Film“ ein ganzes Kapitel der Frage nach dem Klang: Wie klingt es, was klingt und können wir es identifizieren? Sie räumt mit der bereits zu Beginn dieser Arbeit erwähnten Einstellung, Ton ließe sich nur in Zusammenhang mit dem Bild analysieren auf, indem sie anmerkt, dass die persönlichen Erfahrungen, die wir in unserem Leben sammeln, uns helfen, Klänge, Geräusche oder Stimmen zu identifizieren oder zu unterscheiden (vgl. hierzu auch Flückiger 2002).
Überträgt man diese Aussage auf die Rezeption und Analyse eines Hörspiels, bedarf demnach ein Geräusch oder ein durch Geräusche erzeugter (akustischer) Handlungsablauf in einem Hörspiel somit nicht zwangsläufig einem erklärenden Erzähler, sofern es sich um identifizierbare Geräusche handelt. Ergänzend sei erwähnt, dass ein Hörspiel auch ohne eindeutigem Erzähler, allein durch die Aussagen der agierenden Figuren, der Geräusche und nicht zuletzt auch durch die Musik verfolgt werden kann. So kommt z. B. das Hörspiel „Auf Brooklyns Dächern“ (Regie Walter Adler, WDR 1996) komplett ohne Erzähler aus. Der Inhalt wird, wie in einem ausschließlich auditiv rezipierten Film, lediglich über die Geräusche und die Figuren vermittelt.
Jedoch können, so Elke Huwiler, nichtsprachliche Elemente in einem Hörspiel vom Rezipienten unterschiedlich verstanden und bewertet werden: „Bei der Betrachtung von möglichen narrativen Funktionen, die nichtsprachliche Elemente des Hörspiels übernehmen können, ist immer zu berücksichtigen, dass es „graduelle Unterschiede bei der Bildung von Bedeutungsprozessen“ gibt, d. h., es ist davon auszugehen, dass eine sprachlich fixierte Aussage eine eindeutigere Bedeutungszuweisung seitens der Rezipierenden erfährt als eine Musikpassage“. (Huwiler 2005: 300)
Ich werde daher bei der folgenden Analyse der Erzählstrukturen im Hörspiel „Otherland“ versuchen, sowohl auf rein sprachliche, als auch auf akustische und klangtechnische Aspekte einzugehen. Die Erzähler, die Sprache der Figuren und die Figurenkonstelation werden somit gleichermaßen berücksichtigt, wie Musik, Geräusch oder die Kreation von imaginären Räumen durch akustische Effekte.
Tad Williams’ „Otherland“. Eckdaten zu Hörstück, Produktion und den analysierten Folgen
Produktionsdaten
- Autor: Tad Williams (USA 1957)
- Übersetzer: Hans-Ulrich Möhring
- Produktion: HR 2004, ca. 1440 Min.
- Genre(s): Fantasy
- Regisseur: Walter Adler
- Bearbeiter:Walter Adler
- Komposition: Pierre Oser
- Inhaltsangabe: „Otherland – das ist das virtuelle Universum, in dem Fantasy Realität wird. Felix Jongleur, der älteste Mann der Welt, und eine Gruppe von sehr reichen, sehr mächtigen Männern und Frauen hat das gigantische Netzwerk erschaffen. Ihr Ziel ist es, als digitalisierte Wesen in ihrer virtuellen Welt unsterblich zu werden. Zwei Generationen lang haben sie Milliardensummen in das Projekt investiert und verschiedene Simulationen gebaut, in denen sie ihre Fantasien ausleben können. Nun endlich, Ende des 21. Jahrhunderts, steht die Transformation in eine andere Seinsebene unmittelbar bevor.
Otherland ist die Erfüllung des größten Menschheitstraums überhaupt, aber es birgt zugleich ein gefährliches Geheimnis. Überall auf der Welt fallen Kinder in ein rätselhaftes Koma. Eine junge südafrikanische Computerspezialistin, ein Buschmann und eine kleine Gruppe Abenteurer dringen gemeinsam in das Netzwerk ein, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Sie irren durch Märchenwelten, die Eiszeit, erleben die Abenteuer von Odysseus und werden von Comicpiraten bedroht. Unfähig, wieder in ihre Körper in der realen Welt zurückzukehren, sind sie ständig bedroht von virtuellen Gefahren, die so real sind, dass sie töten können. Und die Zeit wird knapp.“
(Quelle: www.hoerdat.de)
Das Hörspiel „Otherland“ ist die bislang aufwendigste und mit knapp 24 Stunden auch die wohl längste Produktion in der Geschichte der ARD. Mit insgesamt 260 Sprechern inszenierte Regisseur Walter Adler 2004, gemeinsam mit dem Hessischen Rundfunk und dem Hörverlag, die Tetralogie von Tad Williams, welche oftmals von Fantasy-Fans als „Der Herr der Ringe des 21. Jahrhunderts“ betitelt wird und knapp 1000 Buchseiten pro Band umfasst.
Namhafte Sprecher, bekannt aus Film und Fernsehen, liehen den Figuren und Erzählern ihre Stimme (für eine ausführliche Sprecherauflistung siehe: http://www.hoerdat.de/ Suchbegriff ‚Otherland’).
Das Hörspiel unterscheidet sich vor allem durch den oftmals bombastisch und überladen wirkenden Klangteppich aus Geräuschen, Effekten, Stimmen und Hintergrundmusik von anderen, vor allem klassischen Hörspielen und erinnert stellenweise vom Sounddesign, den abrupten Schnitten etc. eher an einen Film. Es bildet somit einen Kontrast zu im Vergleich minimalistisch anmutenden Hörstücken, in denen mehr Wert auf Text und Sprache gelegt wird.
Ausgangspunkt der Analyse
Analysiert werden im Folgenden der Inhalt der ersten beiden Folgen des 2. Teils „Fluss aus blauem Feuer“ (Folgen 7 und 8). Eine Inhaltsangabe aller 24 Folgen ist unter obigem Link zu finden.
Inhalt der Folgen 7 und 8
Auf ihrer Suche nach der goldenen Stadt, über die der Archäologe Bolívar Atasco als Gottkönig herrscht, sind Krieger Orlando und sein Gefährte Fredericks ins „Otherland“-Netzwerk geraten, eine Simulation, welche sich kaum von der normalen Außenwelt unterscheiden lässt, aus dem ein Ausklinken (offline gehen) jedoch aus unersichtlichen Gründen nicht mehr möglich ist. Hier treffen sie auf Renie und !Xabbu, sowie auf weitere Weggefährten, alle von einem gewissen Herrn Sellars angelockt. Bevor er ihnen jedoch seinen Plan und seine genauen Beweggründe für ihr aller Zusammentreffen erläutern kann, erstarrt die simulierte Figur Atascos, da man ihm zur gleichen Zeit in der realen Welt umgebracht hat. Dem mysteriösen Herrn Sellars bleibt gerade noch Zeit, Renie, !Xabbu und die anderen etwas über die Gralsbruderschaft und der Errichtung des gigantischen „Otherland“-Netzwerkes zu erzählen und sie auf die Suche nach einem Gefangenen der Bruderschaft, Paul Jonas, zu schicken. Für alle Anwesenden beginnt eine atemberaubende und unglaubliche Reise durch das Netzwerk, durch simulierte Welten, in denen sie es mit übergroßen Insekten, scheinbar aus Cartoons entflohenen Figuren, Piraten, mechanischen Menschen und einer Reihe weiterer Überraschungen zu tun haben werden.
Scheinbar zur gleichen Zeit irrt Paul Jonas durch die Welten des „Otherland“-Netzwerks und findet sich in der Eiszeit wieder, begleitet von Visionen einer merkwürdigen Vogelfrau, welche ihm unverständliche Nachrichten übermittelt. Eines wird ihm jedoch klar: Er muss zu einem schwarzen Berg.
Erzählstrukturen
Die Erzähler
Der Hörer folgt insgesamt elf Handlungssträngen, welchem jeweils ein eigener Erzähler zugeordnet ist. Der Erzähler gibt werteneutral das Geschehen der im Handlungsstrang auftauchenden Personen wieder und nimmt nicht aktiv an der Handlung teil. Er ist in allen Fällen nie allwissend und verfügt über den gleichen Wissensstand, wie die Personen in den zu erzählenden Handlungen.
Die Handlungsstränge werden in den ersten zwei Büchern (Folgen 1-12) eingeführt, sie werden jedoch nicht kontinuierlich über das komplette Werk verfolgt. Hingegen ist das Phänomen zu beobachten, dass einzelne Handlungsstränge zusammengeführt werden. Die in ihnen vorkommenden Personen treffen aufeinander (Folge 7; Begegnung in der goldenen Stadt), werden jedoch im weiteren Verlauf getrennt, um am Ende des Gesamtwerks wieder zusammengeführt zu werden. Bei der Aufspaltung eines gemeinsamen Erzählstranges, wird den jeweiligen Einzelsträngen wieder der Erzähler, welcher die Personen zu Beginn des jeweiligen Stranges eingeführt hat, zugeordnet, sodass eine Verwechslung der einzelnen Stränge somit von Erzählerseite ausgeschlossen ist.
Die elf Handlungsstränge lassen sich in verschiedene Gruppierungen unterteilen. So gibt es Handlungen, die ausschließlich außerhalb der virtuellen Realität stattfinden, jene, welche ausschließlich innerhalb des Netzwerks orientiert sind und Mischformen, bei denen die in ihnen vorkommenden Personen sowohl außerhalb als auch innerhalb der VR agieren. Wobei auch bei dieser Einteilung noch unterschieden werden kann, ob die Personen sowohl außerhalb als auch innerhalb der VR gleichbleibend sind, das heißt, ob durch Eintritt einer Person in das Netzwerk nicht auch ein Identitätenwechsel geschieht. Ferner lassen sich die Erzählstränge noch nach Interessen unterteilen (Gegner vs. Befürworter des Otherland-Netzwerks).
Was die Auswahl der Erzählstimmen anbelangt, so wurde darauf geachtet, klanglich unterschiedliche Erzähler einzusetzen (männliche als auch weibliche Erzähler, alte, junge, raue, weiche Stimmen…). Die Aufteilung der Erzähler auf die einzelnen Handlungsstränge geschah teils geschlechterspezifisch, das heißt, dass einem Handlungsstrang mit einer weiblichen Leitfigur oftmals ein männlicher Erzähler zugeordnet wurde und umgekehrt, jedoch sind auch gleichgeschlechtliche Erzählrollen zu finden.
Die Figuren
Die Figuren werden zwar namentlich eingeführt, jedoch werden sie in seltenen Fällen dem Hörer komplett vorgestellt; es erschließt sich erst im Verlauf der Handlung, welche Charaktereigenschaften sie haben, welche Einstellungen und Meinungen sie vertreten und welche Absichten sie verfolgen; auch wenn nicht jede Figur gleichviel über sich Preis gibt.
Es gibt Personen außerhalb und innerhalb der virtuellen Realität, manche von ihnen bleiben und agieren ausschließlich außerhalb, andere wiederum sind in beiden Realitäten präsent. Nicht jede Figur ist sowohl innerhalb als auch außerhalb der VR gleich (Orlando vs. Thagor: kranker Junge vs. Held; Sam Fredericks vs. Fredericks: Mädchen vs. Junge; Atasco: Archäologe vs. Gottkönig).
Der Wissensstand der Hauptpersonen ist zu Beginn des Hörstücks unterschiedlich, erweitert sich jedoch im Verlauf der Handlung, sodass alle einen gemeinsamen Nenner (das gemeinsame Ziel) erreichen (Ausnahme: Paul Jonas). Jonas ist von Anfang an die wohl unwissendste Person des gesamten Hörstücks. Mit ihm wird die Handlung in der ersten Folge eröffnet und der Hörer wird somit, gleichermaßen unwissend, in das Geschehen katapultiert. Paul Jonas muss sich sein gesamtes Wissen der virtuellen Realität betreffend im Verlauf des Gesamtstücks aneignen. Es scheint aber auch allwissende Personen zu geben, welche jedoch als solche nicht oft in Erscheinung treten. Als allwissend bezeichne ich diejenigen Figuren, welche ein fundiertes Wissen über die virtuelle und reale Realität, über Funktionen, Akteure, Umstände etc. aufweisen können. Dies gilt vor allem für die Mitglieder der sog. „Gralsbruderschaft“, den Programmierern von „Otherland“ sowie für Atasco und Herrn Sellars, welche jedoch nur selten als Allwissende aktiv in Erscheinung treten.
Die Figuren können im Verlauf des gesamten Werks nicht mehr unterscheiden, ob das Erlebte nun real ist oder nicht bzw. ob sie sich nun in virtueller oder realer Realität befinden.
Geräusche, Musik und akustische Räume
Geräusche, Sounds und Samples
Das Sounddesign erinnert durch die oftmals abrupten und schnellen Schnitte und Szenenwechsel an einen Film. Jedoch geschieht ein Szenen- und Ortswechsel hier lediglich auf Geräuschebene. Teils verfremdete Atmosphärengeräusche aus der aktuellen Szene, vermixt mit anderen Soundsamples dienen lediglich als Übergang. Eine Überleitung beispielsweise durch den Erzähler der vorangegangenen Szene bleibt aus und kann bei Ersthörern oder Rezipienten, welche mit dieser Art von kompakten Hörspielen nicht vertraut sind, zu Iretationen und einer akustischen Überforderung führen. Oftmals beginnt eine neue Szene nicht mit einer kurzen Einführung in die derzeitige Situation der Figuren durch einen Erzähler, sondern durch direkte Dialoge oder Geräusche.
Der Klangteppich wirkt überladen an Sounds, anders als in klassischen Hörspielproduktionen, bei denen die Sprache im Mittelpunkt steht. Fast alle Szenen sind mit einem Atmosphären-Geräusch oder mit Musik unterlegt. Nur in wenigen Szenen wird auf Hintergrundgeräusch sowie –Musik verzichtet (siehe Punkt ‚Sonstiges’ in diesem Teil der Arbeit).
Generell ist festzustellen, dass für dieses Hörstück großen Wert auf das Sounddesign gelegt wurde. Dies lässt sich unter anderem auch an den unzähligen, künstlich kreierten Sounds festmachen, welche meist dann in die Handlung eingebunden werden, wenn surreale Ereignisse, Personen oder Gegenstände in die Handlung eingebaut werden.
Musik
Die Komposition des gesamten Stücks ist, wie auch schon die Auswahl der Geräusche und Effekte, mit dem filmischen Sounddesign vergleichbar.
Eine Filmmusik kann den Rezipienten emotional beeinflussen. Mit ihrer Hilfe können Figuren charakterisiert, ihre Gefühle vermittelt oder das Geschehen in einer Szene kommentiert werden. […] Musik kann auch das Fundament für den dramaturgischen Aufbau einer Szene liefern, so z. B. die Spannungsentwicklung unterstützen und vorantreiben […], den Höhepunkt herausarbeiten und die Szene durch eine musikalische Schlusswirkung abrunden“. (Bullerjahn 1999) Elke Huwiler ergänzt in ihrem Aufsatz über die Erzählstrukturen in Hörspielen, dass eine unheilvoll klingende musikalische Untermalung verraten kann, „dass eine zur Beruhigung gedachte verbale Aussage einer Hörspielfigur nicht wirklich so gemeint ist.“ (Huwiler 2005: 295)
So ist auch die komponierte Musik in „Otherland“ immer an die Situation der Figuren angepasst. Sie wirkt theatralisch, düster und bedrohlich, kündigt (teils übertrieben) Unheil an und verdeutlicht die Emotionen der aktuell agierenden Figur(en). Nur wenige Szenen kommen ohne Musik aus, doch sind dies auch meist diejenigen Szenen, welche ein minimales Personensetting aufweisen (ein/zwei Personen oder eine Person + einen Telefon-Gesprächspartner).
Akustische Räume
Durch Stereosounds, verteilte Sprecher auf beiden Kanälen, Atmosphärensounds sowie Raumeffekte (wie Echo, Hall, weite oder enge Räume, Surround-Effekte etc.) wird ein akustischer, imaginärer Raum erzeugt. Ausnahmen bilden hier die Erzähler, welche neutral aufgenommen und abgemischt wurden.
Im Hörspiel „Otherland“ wurde, wie in Filmen üblich, mit den gängigen Stereotypen bei der akustischen Raumgestaltung gearbeitet. Denn auch in der virtuellen Nacht zirpen Grillen, so wie man es auch aus Nachtszenen bei amerikanischen Filmen kennt. Das Soundsetting der Nacht ist ein im filmischen Sounddesign wiederkehrendes Stilmittel, welches auch in „Otherland“ Einsatz findet (Vgl. Hierzu Flückiger 2002 und 2005).
Sprache
Die Erzähler in „Otherland“ haben eine gewählte, teils eher theatralische Ausdrucksweise und schildern sachlich und prägnant das Geschehen in den einzelnen Szenen.
Bei den Figuren wechselt der Wortschatz Abhängig von Figur und Situation zwischen gewählt und ungehobelt. Es wird hier jedoch komplett auf Fekalsprache verzichtet. Selbst eine erwähnte eindeutige sexuelle Handlung wird nur andeutungsweise angesprochen (Folge 9: Erwähnung einer Schwangerschaft vor dem Kindsvater).
Sonstige Merkmale und Besonderheiten in der Erzählstruktur
Netfeed-Hacker
Beim „Netfeed-Hacker“ handelt es sich um eine Hauptfigur, welche als solche jedoch nie vorgestellt wird und lediglich durch seine Nachrichten-Einblendungen im gesamten Stück in Erscheinung tritt. Er hackt sich in die Nachrichtennetze und stößt dabei auf Meldungen aus verschiedenen Ressorts, welche nicht immer konkret mit der laufenden Handlung zu tun haben. Jedoch gibt es auch hier Überschneidungen mit den Haupthandlungen. So stößt er im Rahmen seiner Recherchen auf eine Dokumentation über „Otherland“ oder über eine Meldung, dass verschiedene Kinder an einer bislang unbekannten Krankheit erkrankt seien.
Wechsel der Erzählperspektiven
Neben dem „Netfeed-Hacker“ gibt es, vor allem im 2. Teil des Hörspiels, weitere Abweichungen von der bis dahin üblichen Erzählstruktur und den bis dahin aufgebauten Erzählsträngen. Im Lauf der Folgen 8 bis 10 sind eingefügte Tagebuchsequenzen zu finden, die in Diktatform von Martine aufgesprochen werden, in denen sie über das psychologische Experiment berichtet, welches zu ihrer Erblindung geführt hat. In diesen Sequenzen wird größtenteils auf Hintergrund-Atmosphäre und Musik verzichtet. Wie im Lesungs-Stil wird der Rezipient in nur vergleichsmäßig kurzer Zeit in das nähere, persönliche Umfeld einer Figur eingeführt, was durch kleine Rückblenden untermalt wird. Dies ist eine der wenigen Stellen im gesamten Hörstück, bei denen der Hörer in kompakterer Form mehrere Informationen über eine Figur erhält. Ansonsten sind, wie oben bereits erwähnt, alle sonstigen Informationen die anderen Figuren betreffend (sofern sie denn überhaupt preisgegeben werden) bruchstückhaft über das gesamte Hörspiel verteilt, sodass der Hörer sich alle Puzzle-Teile nach und nach selbst zusammensetzen muss, um ein komplettes Bild der einzelnen Figur zu erhalten.
Neben dieser Abweichung von der üblichen Erzählform des Erzählers in der dritten Person, werden weitere kleinere Erzählungen im Lauf des 2. Teils wiedergegeben. Die erzählenden Figuren schlüpfen hier kurzzeitig in die Erzählerrolle, die erzählten Geschichten werden szenisch mit Sprechern, Geräuschen, jedoch verfremdet, dargestellt.
Zeit
Das Hörspiel gibt bis zum Ende der analysierten Folgen 7 und 8 keinerlei Auskünfte, wie viel (erzählte) Zeit bis dahin verstrichen ist. Lediglich durch die Erwähnung von Tag und Nacht entsteht beim Rezipienten ein Zeitgefühl, auch wenn durch die schnellen Perspektiven- und Erzählstrangwechsel manch (erzählter) Tag mal länger, mal kürzer dauert. In besonderen Fällen verliert der Rezipient, gemeinsam mit den Figuren, das Gefühl für Zeit, da in den jeweiligen Szenen keinerlei Erwähnung von Zeit, Tag oder Nacht, vorgenommen wird.
Schlussbemerkung
Walter Adler schuf mit „Otherland“ ein gelungenes Hörspiel-Werk. Dem Regisseur gelang es, durch die vorherig beschriebenen, stilistischen Mittel, den Stoff der vier Bände hörergerecht aufzubereiten, auch wenn sich nicht geschulte (oder Gelegenheits-)Hörspielhörer überfordert fühlen könnten.
Das Hörspiel folgt sowohl konventionellen Vorsätzen bei der Hörspieldramaturgie, beinhaltet jedoch auch Abweichungen von der sonst üblichen Erzählstruktur. Neben dem gewöhnlichen Erzähler finden sich Tagebucheinblendungen, skizzenhafte Nachrichtenauszüge mit O-Tönen oder eine der Figuren schlüpft für eine Sequenz lang in die Erzählerrolle. Es findet hier somit eine Ebenenverschiebung statt, die erzählte Figur wird zur erzählenden Figur und der Hörer nimmt kurzzeitig Teil am erzählten Geschehen.
Da „Otherland“ die Vertonung eines Buches ist, könnte in Folgearbeiten noch der Frage nachgegangen werden, in wieweit die Handlungen in Buch und Hörspiel übereinstimmen, in wieweit Kürzungen vorgenommen wurden und vor allem, in wieweit sich die Erzählstrukturen und –Stränge in Buch und Hörspiel unterscheiden.
Dass Hörspiel einem akustischen Film ähneln kann, wurde bereits mehrfach in dieser Arbeit erwähnt. An dieser Stelle seien zum Abschluss noch drei weitere Hörspiele genannt, welche entweder ähnliche Erzählstrukturen als das analysierte „Otherland“ aufweisen oder in ihrer akustischen Ausgestaltung dem Sounddesign eines Filmes ähneln:
- Matt Ruff: G.A.S. – die Trilogie der Stadtwerke. WDR, 2000; 162 Minuten; Regie: Walter Adler (interessant, da mehrere Erzählstränge verfolgt werden, ähnlich aufwendiges Sounddesign, schnelle Szenenwechsel, hier jedoch mit Überleitung, Genremix aus Krimi, Comic und Science Fiction).
- Buddy Giovinazzo: Potsdamer Platz. WDR, 2004; 108 Minuten; Regie: Petra Feldhoff (interessant, da hier Elemente des Splatterfilms vorzufinden sind).
- Bob Leuci: Auf Brooklyns Dächern. WDR 1996; 50 Minuten; Regie: Walter Adler (hier wird komplett auf einen Erzähler verzichtet, ähnlich einer Filmtonspur).
Literatur
Bullerjahn, Claudia (1999): Ein begriffliches Babylon. Von den Schwierigkeiten einer einheitlichen Filmmusik-Nomenklatur. Online Abrufbar unter http://www.slm.uni-hamburg.de/imk/Archiv%20ZMM/sommer99/Bullerjahn.htm (Zuletzt zugegriffen am 24.08.2010).
Flückiger, Barbara (2002): Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. 2. Auflage. Marburg: Schüren
Flückiger, Barbara (2005): Narrative Funktionen des Filmsounddesigns: Orientierung, Setting, Szenographie. (In): Segeberg, Harro/Frank Schätzlein (2005) (Hg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg: Schüren,S.140-158.
Hoerdat.de: Otherland. (Aus): HörDat, die Hörspieldatenbank. http://www.hoerdat.in-berlin.de/voll.php?a=Williams&b=Otherland&c=HR (Zugegriffen am 24.06.2010).
Huwiler, Elke (2005): Sound erzählt. Ansätze einer Narratologie der akustischen Kunst. (In): Segeberg, Harro/Frank Schätzlein (2005) (Hg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg: Schüren, S.285-308.
Schätzlein, Frank (2005): Sound und Sounddesign in Medien und Forschung. (In): Segeberg, Harro/Frank Schätzlein (2005) (Hg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg: Schüren, S.24-41.
Schätzlein, Frank (2006): Veränderungen und Tendenzen der Hörspieldramaturgie. Zu den Strategien und Positionen der dramaturgischen Arbeit im öffentlich-rechtlichen Radio. Online abrufbar unter http://www.frank-schaetzlein.de/texte/hoerspieldramaturgie.htm (Zuletzt zugegriffen am 25.08.2010).
Segeberg, Harro (2005): Der Sound und die Medien. Oder: Warum sich die Medienwissenschaft für den Ton interessieren sollte. (In): Segeberg, Harro/Frank Schätzlein (2005) (Hg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg: Schüren, S.9-24.