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Realität mit Folgen – Überlegungen zum Genre Reality-TV

Realität im Fernsehen hat Hochkonjunktur. In mehr als dreißig Sendungen wöchentlich gewähren uns völlig fremde Personen einen Einblick in ihre Privatsphäre und lassen uns teilhaben an ihren Problemen, Ängsten und Sorgen. Das Genre des Reality-TV im Fernsehen boomt wie nie zuvor und vor allem die privaten Fernsehkanäle wie RTL oder RTL2 bescheren uns mit immer neuen Sendungsideen und –Formaten.

Dass was früher unter dem Siegel des Privaten der Öffentlichkeit vorenthalten wurde und was viele von uns auch niemals öffentlich einem Fremden erzählen würden, macht sich das Fernsehen zu Eigen und produziert ein fast tägliches Realitätsprogramm, welches in den meisten Fällen völlig an der Realität vorbei geht, dennoch von vielen Zuschauern sicherlich für real empfunden wird.

Im folgenden Beitrag soll in kompakter Form auf das Phänomen „Real Life Fernsehen“ und seine Folgen, vor allem hinsichtlich der Menschenbilder, die durch solche Sendungen entstehen (können), eingegangen werden.

Was genau ist Reality-TV?

Reality-TV ist ein noch relativ junges Fernseh-Genre, das sich in Deutschland seit Mitte der 90er Jahre durch Sendungen wie „Notruf“, durch Talk- oder Personal-Help-Shows (wie bspw. „Die Super Nanny“) sowie durch die zahlreichen, seit Ende der 90er Jahre aufgekommenen Gerichtsshows etabliert hat. Merkmale des Reality-TV – hierzu zählen übrigens auch Reality-Soap (Gerichtsshows) sowie Docu-Soap (Super Nanny) – sind die Nachinszenierung alltäglicher Themen, sei es durch reale oder durch Laienschauspieler dargestellte Personen, die Verbindung aus fiktionalen (erfundenen) und nicht-fiktionalen (wirklich geschehenen) Ereignissen, sowie die emotionalisierte Darstellung des Privaten und Intimen in der Öffentlichkeit.

Während in einer Docu-Soap tatsächlich geschehene Sachverhalte nachinszeniert werden, wird in Reality-Soaps nach vorgeschriebenem Skript gedreht, wobei, wie sich in den folgenden Abschnitten zeigen wird, eine genaue Abtrennung zwischen beiden Subgenres teilweise gar nicht mehr möglich ist.

Realität im Fernsehen – ein kurzer Überblick über Sendungsformen und Menschenbilder

Wie eingangs erwähnt, werden derzeit mehr als dreißig Sendungen wöchentlich ausgestrahlt. Zu fast jeder Tageszeit werden aktuell Reality-TV-Sendungen, vor allem auf den privaten Fernsehsendern (RTL, RTL2, Vox, SAT.1, ProSieben, Kabel Eins), inzwischen auch verstärkt zur Hauptsendezeit um 20:15 Uhr, gezeigt.

Wirft man einen Blick auf die behandelten Themen, so gibt es inzwischen keinen Bereich des Privatlebens, welcher noch nicht durch das Fernsehen in Form von Reality-TV-Formaten behandelt wurde. So begleiten wir Menschen beim Partner suchen, Heiraten, Wohnung suchen und einrichten, Kinder kriegen, Kinder erziehen (zur Not auch mit Hilfe weiterer Personen), Familien-, Schul- und Eheprobleme lösen, Job suchen, Arbeiten, Streiten, Schulden begleichen, Existenz gründen, Wohnungen entrümpeln, Frauen tauschen, Auswandern (und wenn es im Ausland nicht klappt Wiedereinwandern). Wir begleiten die Kinder und Jugendlichen beim Popstar werden, Modeln, Abnehmen, Beziehungsprobleme lösen, Flirten, Fremdgehen… und man könnte diese Liste noch weiter fortführen.

Aber auch bestimmte Berufsgruppen wurden bereits exemplarisch in Reality-TV-Sendungen behandelt. Da wären die Ordnungshüter, Pfandleiher, Tierpfleger, Geldeintreiber, Restauranttester, Sozialarbeiter und weitere Berufszweige, welche schon Teil einer solchen Sendung waren. Auch vor tierischen Themen macht das Fernsehen nicht halt, wobei die Tier-Docu-Soaps eher von den öffentlich rechtlichen Sendern (ARD, ZDF sowie dritte Programme) produziert und ausgestrahlt werden.

Dass viele der Sendungen nur inszeniert sind und die Geschichten und Personen frei erfunden wurden, ändert nichts am hohen Erfolg solcher Sendungen. Gerade aus Kostengründen oder wenn wiedereinmal die Einschaltquote ein wenig gesunken ist, greifen Produktionsfirmen gerne auf Laiendarsteller zurück – über deren schauspielerische Leistung ich mich in diesem Beitrag jedoch nicht auslassen werde.

Wenn auf „reale“ Personen zurückgegriffen wird, so wird jedoch oft nach Drehbuch gedreht (sog. Scripted Reality-Shows). Von den Sendern wird dies oftmals zwar vehement abgestritten, jedoch wird gegenteiliges von Teilnehmern berichtet, welche beispielsweise aufgefordert wurden, in einer Streitsituation noch mehr aus sich raus zu gehen. Sie verstellen sich somit für die Kamera und vermitteln dem Zuschauer ein Bild, welches nicht der Realität entspricht. Sie lassen sich bloßstellen und oftmals ist es ihnen während der Dreharbeiten gar nicht bewusst, was da mit ihnen geschieht. Erst wenn sie zu Medienopfern werden und feststellen müssen, dass sie medial entstellt worden sind und das Gezeigte nicht realitätsferner hätte sein können.

Aber wer will schon die Realität sehen? Die meisten wollen unterhalten werden und oft auch eine Bestätigung dafür haben, dass es ihnen in ihrem Leben besser ergeht.

Doch ist das der Reiz an solchen Sendungen? Die pure Konfrontation mit Klischees und das Wissen, es besser zu haben? Oder ist es doch die Lust nach Sensation, die Schadenfreude?

Besser noch, als manch Boulevard-Magazin, bietet Reality-TV mit seinen zahlreichen Sendungen genügend Anlass zum lästern oder seine Sensationslust zu befriedigen. Angefangen bei den stereotypisierten Menschenbildern, die durch Sendungen wie „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“ oder auch „Frauentausch“ hervorgerufen werden. Manche dieser Klischees und Stereotypen sind zwar bereits in den Köpfen vieler verankert, werden jedoch durchs Fernsehen nochmal gefestigt und gestärkt.

Glaubt man den televisionären Menschenbildern, so ist die Traumfrau schlank und hübsch, hat eine auffällige Oberweite, wenig Intelligenz, viel Aggressionsbereitschaft. Lebt sie in einer Partnerschaft, so ist sie gleichzeitig fürsorgliche Hausfrau, mit einem ausgeprägten Sinn für Reinlichkeit und Werte und Normen. Ist sie weder schlank noch schön und reinlich und wohl möglich noch arbeitslos, so wird sie von ihren Mitmenschen nicht mehr toleriert und benötigt dringend Hilfe von außen.

Beim medialen Mann lassen sich ähnliche Pole feststellen. Entweder er ist durchtrainiert, gut aussehend, erfolgreich und tritt als Versteher für die Probleme seiner Partnerin in Erscheinung, oder jedoch eine faule, übergewichtige Couch-Potatoe, welche Hartz IV empfängt und seiner Frau den gesamten Haushalt überlässt. Zwischen diesen Polen, sowohl beim Mann als auch bei der Frau, scheint es nicht viel interessantes zu geben, dass es wert wäre, von den Produktionsfirmen in ihren Real-Life-Formaten verbraten zu werden. Je extremer desto besser.

Aber auch Kinder werden stereotypisiert dargestellt. Sie sind fleißig in der Schule, helfen im Haushalt mit, achten auf ihre Umwelt und Mitmenschen und sind pünktlich um 22:00 Uhr zuhause. Wenn das nicht zutrifft, so sind sie Partygänger, hören nicht auf ihre Eltern, rauchen, saufen, treiben sich herum, prügeln und sind alles andere als vorbildhaft. Anders, als bei den Erwachsenen, gibt es noch zwei weitere thematische Strömungen, welche häufig Platz in Real-Life-Sendungen finden. Es sind Mädchen, die mit 15-17 Jahren schwanger werden und sich als werdende Teeny-Mutter durch 45 Minuten Sendezeit schlagen müssen, oft auf wenig Verständnis und Akzeptanz von Seiten ihrer Familie stoßend. Gerade dieses Themenfeld wurde in letzter Zeit wieder verstärkt behandelt. Die letzte Gruppe sind Problemfälle, Kinder die sich auffällig verhalten, die ebenfalls übergewichtig sind oder anderweitige Probleme haben, denen man während der Sendezeit auf dem Grund kommt. Wenn man das Problem nicht alleine in den Griff bekommt, dann gibt es ja noch unzählige Fernsehexperten, welche einem zur Seite stehen und für den Zuschauer neue Sendeplätze füllen – dies gilt im übrigen nicht nur für Kinder und Jugendliche.

Jedoch sind dies nur grobe Strickmuster der Möglichkeiten für die Vermittlung von medialen Menschenbildern. Wer genauer solche Sendungen konsumiert, dem werden noch weitere Klischees und Stereotypen auffallen, die regelmäßig untergebracht werden; damit könnte man ganze Bücher füllen. Und von Sendung zu Sendung werden die medialen Emblößungen, sofern mit realen Personen gedreht wurde, schlimmer, der Zuschauer muss mit immer neuen, noch extremeren Stories und Shows bei Laune gehalten werden. Selbst vor intimsten Dingen macht man inzwischen im Reality-TV nicht halt, was letztendlich auch durch Formate wie „Big Brother“ ausgelöst wurde.

Eine andere Vermittlungsform im Reality-TV ist der – ich bezeichne ihn nachfolgend als – Fingerzeigeffekt. Dargestellten Personen (ob nun als reale Person oder durch einen Schauspieler gespielt) wird durch ihr Umfeld vermittelt, etwas an ihrem Verhalten, ihrem Aussehen oder ihrer Lebensweise verändern zu müssen, sofern sie nicht schon im Vorhinein dazu bereit sind. In diesem Kontext wurden in den letzten Monaten Personen vorgeführt, welche vor allem unter extremem Übergewicht leiden. Die Übergewicht-Thematik nimmt im Vergleich zu anderen Themen in letzter Zeit stätig zu, ob dies an steigendem Zuschauerinteresse oder an anderen Faktoren liegt, lässt sich zunächst nur vermuten.

Dieser Fingerzeig („Du musst etwas verändern“) findet auch vor allem in den diversesten Tauschexperimenten statt, denn hier reagiert nicht das gewohnte, sondern das neue Umfeld auf die Person und ihre Eigenheiten. Diese Eigenheiten können Übergewicht, Antriebslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Schlampigkeit etc., im erweiterten Sinne aber auch Ehe- oder Beziehungsprobleme, Probleme mit den Kindern sein. Die Tauschfamilien nehmen hier, sofern sich der Tauschpartner/die Tauschpartnerin darauf einlässt, eine beratende Funktion ein. Eine andere Version ist die vorherige Vorbereitung auf den zu verändernden Angehörigen der Tauschfamilie, indem (im Beispiel „Frauentausch“) der Tauschmutter Mittels Videobotschaft mitgeteilt wird, sie solle dem Mann der Tauschfamilie buchstäblich in den Arsch treten (wegen seiner Faulheit), dem Sohn bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz helfen etc. Im schlimmsten Fall bekommt die Tauschmutter die Aufgaben der Anderen auferlegt, die diese selber nicht bewältigen kann.

„Frauentausch“ ist inzwischen nicht das einzige, wenn aber wohl das am meisten kritisierte Tauschexperiment im Rahmen der Reality-TV-Sendungen. Im Rahmen der auf RTL ausgestrahlten Docu-Soap „Mitten im Leben“ tauschen Teenager für fünf Tage ihre Familien. Hier tauscht verwöhntes Kleinstadtgör mit frühreifer Großstadtzicke, Macho mit bravem Dorfmädchen. Hier wird, mehr noch als bei manch „Frauentausch“-Folge gezielt zwischen sich kontrastierenden Familien getauscht (arm vs. Reich, Klein- vs. Großstadt), um so am Ende genügend Potenzial für eine lautstarke Auseinandersetzung beim Aufeinandertreffen der Tausch-Teenies zu garantieren – was auch in den meisten Fällen gelingt. Den tauschenden Teenagern soll durch dieses Experiment einmal das Leben in einer anderen (ärmeren oder reicheren) Familie gezeigt werden.

Ähnliche Experimente mit erwachsenen Teilnehmern hat es vor einigen Jahren bereits im „Aschenputtel-Experiment“ gegeben, indem gezielt zwischen reichen und armen Familien hin und her getauscht wurde.

Neben Sendungen, die entweder während des Sendungsablaufs oder nachhaltig das Leben der Teilnehmer (sofern reale Personen daran teilgenommen haben) verändern, gibt es auch jene Reality-Formate, welche ein bestimmtes Berufsfeld darstellen. Von der Vorstellung kann nicht immer die Rede sein, da in manchen Fällen die mediale Darstellung während eines Docu-Soap-Auftritts (Beispiel „Lenßen & Partner“) vom realen Berufsalltag abweicht. Neben Kochprofis und Restauranttestern, Schuldnerberatern und Sozialarbeitern, Polizisten und Privatdetektiven, Pädagogen und anderen Berufszweigen, welche schon in produzierten Docu-Soap-Serien ihr Stelldichein gegeben haben, werden auch regelmäßig, jeweils für eine Episode, einzelne berufstätige Menschen begleitet und gezeigt (Pfandleiher, Geldeintreiber, Alleinunterhalter etc.).

Ein weiterer großer Bereich im realen Fernsehleben ist das Vorführen von Einzelschicksalen, welche vor allem in Reality-Soaps ihren festen Platz haben. In diese Kategorie, auch wenn es nicht immer ganz zutreffend ist, ordne ich auch die ganzen Auswanderer-Formate ein. Denn die schicksalhafte Blauäugigkeit, mit der manche Teilnehmer ihr bisheriges Leben einfach so aufgeben und, nur wegen Sonne, Strand und Palmen, sich unüberlegt in die weite Ferne wagen. In manchen Fällen geht es nach einer Weile gut, für viele ist es jedoch die durch Kameras begleitete Zerreißprobe. Und wenn man im fremden Land doch keinen Fuß fassen kann, wandert man halt wieder ein – selbst hierfür gab es in der Vergangenheit schon Sendungsformate.

Und so gibt es noch weitere Bereiche und Kategorien, in die sich das pseudoreale Geschehen im Reality-TV eingliedern und zuordnen lassen könnte. Denn über die ganzen Casting-Formate, die ewige Suche nach dem Glück (ob nun als Model, als Superstar oder als Bäuerin), wurde in diesem Beitrag noch kein Wort verloren – würde aber ebenfalls auch den Rahmen sprengen.

Fazit

Abschließend sei noch bemerkt, dass es höchst erstaunlich ist, wie viele Menschen dazu bereit sind, ihr Privatleben für einen Fernsehauftritt in einem Reality-Format zu opfern. Sei es, um abzunehmen, sich schikanieren zu lassen oder die Familie zu tauschen; sofern wir davon ausgehen, dass ein Großteil der Reality-Formate immer noch mit realen Personen gefüllt wird.

Der Frage, warum Menschen an solchen Sendungen teilnehmen und sich freiwillig erniedrigen lassen, wurde bislang leider kaum nachgegangen. Ob es wegen dem Geld und aus purer Unwissenheit geschieht oder ob sie wissen, dass sie nach Drehbuch agieren müssen, hierüber gaben bislang nur wenig Menschen auskunft. Eines weiß man jedoch aus Forenbeiträgen etc.: Einige, die an solchen Reality-Formaten (wie z. B. „Frauentausch“) teilgenommen haben, haben es oftmals am Ende bitter bereut.

Quellen

  • Joan K. Bleicher: Skurrilitäten und Tabubrüche im Fernsehen. Ein Streifzug durch die Programmgeschichte. (Aus): Sonja Ganguin/Uwe Sander (Hrsg.): Sensation, Skurrilität und Tabus in den Medien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S.79-93.
  • Joan K. Bleicher: Zwischen Frauentausch und Küchenschlacht. Frauenrollen in Reality Formaten. (In): Medien + Erziehung 53(2009)2, S.32-35.
  • Angelika Kallwass: „Die Intensität der Gefühle war spektakulär“… Angelika Kallwass über ihre Arbeit in der Nachmittagssendung „Zwei bei Kallwass“. (Aus): Claudia Brunst (Hrsg.): Leben und leben lassen. Die Realität im Unterhaltungsfernsehen. Essays, Analysen und Interviews. Konstanz: UVK Verlagsges. 2003, S.135-151.
  • Matthias „Metty“ Krings: Ewigkeit auf Probe. (Aus): Télécran, das Luxemburger Magazin . http://www.telecran.lu/index.php?load=Artikel&id=856&nav=Mettys%20Flimmerkiste&nav1=Ewigkeit%20auf%20Probe (Zugegriffen am 13.08.2010)
  • Elisabeth Klaus/Stephanie Lücke: Reality TV – Definition und Merkmale einer erfolgreichen Genrefamilie am Beispiel von Reality Soap und Docu Soap. (In): Medien & Kommunikation 51(2003)2, S.195-212.
  • Martina Schorr-Neustadt/Angela Schorr: Real People TV. Eine vergleichende Inhaltsanalyse zur dramatischen Inszenierung von Reality-TV- und Serienbeiträgen. Aus: Angela Schorr (Hrsg.): Publikums- und Wirkungsforschung. Ein Reader. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 317ff.

Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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