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18.12. – Der Tag, an dem du von uns gingst… oder: Auch Zeit heilt solche Wunden nicht

Manche Themen sind so unangenehm, dass viele sie lieber verschweigen würden – so auch der Tod. Wenn Menschen von uns gehen und man selber droht ins Trauerloch zu fallen, merkt man dies sehr deutlich an der Reaktion anderer.

Vor genau zehn Jahren nahm mein Vater sich in der Nacht auf den 18.12. das Leben – einfach so, ohne dass es vorab irgendwelche offensichtlichen „Vorzeichen“ oder „Gründe“ gegeben hätte. Doch genau danach beginnt man als Angehöriger bzw. Sohn zu suchen. Gräbt in den vergangenen Jahren nach möglichen Gründen, fragt sich selbst, ob man hätte etwas anders machen können und müssen, grübelt, ob man etwas falschgemacht hat, tauscht sich mit Nachbarn aus, bloß um ein Anzeichen für diese „Entscheidung“ zu finden. Und im gleichen Atemzug verteufelt man diejenigen, die einem genau mit diesen Fragen konfrontieren: „Warum? Habt Ihr denn vorher nichts gemerkt? Gab es Streit?“

Und nein, wir haben nichts bemerkt und nein, es hat – soweit ich es weiß – keinen Streit gegeben. Vielleicht war es eine Kurzschlussreaktion, vielleicht war es von ihm über Tage hinweg „geplant“, wir wissen es nicht. Denn es gab weder Abschiedsbrief noch irgendwelche anderen Notizen. Auch wenn ich Angst hatte, mit der Wahrheit, mit seinen Gründen konfrontiert zu werden, habe ich doch akribisch nach irgendetwas gesucht. Ich wollte verstehen. Und ich verstehe es bis heute immer noch nicht ganz. Vielleicht hat er sich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt, weil er keine Arbeit mehr hatte und Bewerbungen ins Leere verliefen? Kein Grund, sich am Ende das Leben zu nehmen, aber vielleicht doch mit ein kleiner Auslöser…

Und ich hätte mich verabschieden gewollt. Etwas, mit dem ich noch Jahre danach zu kämpfen hatte – ich hatte für mich immer das Gefühl, mich nicht vernünftig verabschiedet zu haben, ihm alles Gute auf seinem Weg, wohin auch immer, zu wünschen. Warum? Weil mir die Zeit fehlte. Denn als der Sarg in der Kirche stand, viele ihre mitgebrachten Blumen und Sträuße niederlegten, hätte ich noch etwas bleiben wollen, doch man ließ mich nicht. Ich war jedoch auch nicht in der Lage, irgendein Wort herauszubringen – falls jetzt jemand kommt, ich hätte ja nur etwas zu sagen brauchen. In so einer Situation kannst du nichts mehr sagen. Du stehst da, mit deiner Blume in der Hand, vor dem Sarg und überlegst, was du sagen sollst, was du tun sollst, möchtest alles herausschreien… doch am Ende kommt nichts und du wirst am Arm genommen und hinausgeführt, obwohl du eigentlich hättest rufen müssen: „Hey halt, ich war verdammt noch mal noch nicht fertig!“

Fast genauso schlimm wie der fehlende Abschied war die Reaktion meines Umfelds auf seinen Tod. Irgendwie scheinen viele von uns ein verqueres Verhältnis zu diesem Thema zu haben, einerseits verständlich, niemand sieht gern den anderen leiden. Und da kommen dann so Aussagen wie „Das Leben geht weiter“, „Du musst stark sein“, „Lass dich nicht hängen“, „Ja und? Menschen sterben halt irgendwann!“. Das Recht zu Trauern wurde einem förmlich versucht abzusprechen. Und ich weiß bis heute nicht warum. Waren es wieder nur einfach dahergesagte Floskeln? War es die Angst, man könne in ein emotionales Loch fallen und daraus nie wieder hervorkommen?

Natürlich geht – irgendwann – das Leben weiter, muss es ja auch, wenn man nicht in der eigenen Trauer gefangen sein wollte. Und ganz ehrlich, so etwas wusste ich selber. Wenn man sonst nichts zu sagen hat, kann man sich solche Floskeln auch sparen, denn sie helfen niemandem, außer vielleicht demjenigen, der sie ausspricht für das eigene, gute Gefühl etwas gesagt zu haben.

Wenn die Leute überhaupt noch mit einem sprachen. Beim Tod merkt man so richtig den gesellschaftlichen Zwiespalt. Denn viele versuchen durch überfreundliches Verhalten, aber durchaus auch durch Ignoranz, das Thema nicht an sich heranzulassen. Wirklich gute Freunde erkennst du genau in diesem Augenblick. Und wenn man nicht weiß, ob und was der Trauernde braucht, sollte man ihn fragen, aber selbst das fällt vielen ja schon schwer. Also wird der Tod zur Last, nicht nur für den Trauernden, sondern auch für das eigene, soziale Umfeld. Verpönt und unangenehm ist das Thema, dass man sich so verhält und zu oft darüber hinwegschweigt.

Und wieso soll man überhaupt „stark“ sein? Stark, diese harte Zeit zu überstehen? Stark, um möglichst schnell wieder in unserer Gesellschaft zu funktionieren? Stark für sich selbst? Bis heute hab ich darauf noch keine richtige Antwort gefunden.

Ein alter Klassenkammerad schrieb in einer sehr persönlichen Mail: „Wann sind Menschen wirklich tot. Wenn sie getötet werden? Wenn sie durch Krankheit sterben? nein, wenn sie vergessen werden!“ Was bleibt, ist demnach also die Erinnerung. Ich habe wirklich nie in meinen 35 Jahren den Wunsch verspürt, einmal sehen zu können. Es nie bedauert, Mimik und Gestik nicht zu sehen, nicht Auto fahren zu können oder andere, schöne Dinge nicht zu sehen. Jedoch gestehe ich offen, dass ich mir in diesem Augenblick wünschte, mir immer, wenn mich die Trauer überrennt oder ich die Sehnsucht verspüre, ein Bild von ihm anschauen zu können. Es gibt natürlich noch viele andere Dinge, durch die ich mich an meinen Papa zurückerinnern kann, doch keines ist wohl so ehrlich und gut, wie ein Foto? Denn Tonaufnahmen gibt es leider nicht (mehr)! Und ein jeder von uns weiß, wenn er oder sie mal ehrlich zu sich selbst ist, dass Erinnerungen nun einmal irgendwann verblassen, frischt man sie nicht durch irgendetwas auf! Und dieses Wissen, dass es nur die Erinnerung, nebst einiger Gegenstände ist, die mich an ihn erinnern kann, kein Bild, keine Stimme, machte es um keinen Deut besser.

Etwas, worüber ich immer nachdenke, wenn der Todestag naht, ob Zeit wirklich alle Wunden heilt? Zeit vermag vieles zu können, in manchen Situationen durchaus das Heilen von Wunden. Doch glaube ich bzw. weiß ich, dass in diesem Fall Zeit nur Wunden schließen, jedoch im Innern nicht wirklich heilen kann. Und wenn man noch soviel Hilfe inanspruch nimmt, am Ende ist es auch nur eine Hilfe, am Todestag nicht an der Wunde zu kratzen, sodass sie aufreißt. Was ja schon mal ein guter Anfang ist. Außerdem kann man lernen, mit seiner Trauer umzugehen, sie in Momenten auch zuzulassen. Denn das Schlimmste, das man sich selbst antun kann ist, sie einfach nur zu verdrängen. Und wenn es einem hilft daran zu glauben, dass der Verstorbene irgendwo dort oben ist und auf einem hinabschaut, einem den Rücken stärkt. Viele mögen dies kitschig oder zu abstrakt finden, doch wenn es einem selber hilft, zählt nicht, was andere darüber denken. Denn in der Trauer ist man nur sich selbst der nächste und es sollte keine Rolle spielen, was wieder mit „den Anderen“ ist und was man für einen Eindruck bei ihnen hinterlassen könnte.

Zehn Jahre ist es nun schon her und viele werden mit Sicherheit denken: Mein Gott, der trauert immer noch? Ja, jedes Jahr, mal mehr, mal weniger. Und das ist auch mein gutes Recht, mindestens an einem Tag im Jahr einmal nicht so zu „funktionieren“, fröhlich, unbetrübt und „stark“ zu sein. Schließlich reiße ich mich oft genug zusammen, wenn die Erinnerungen kommen und ich mich gern an „alte Zeiten“ und an „früher“ zurückerinnere, als z. B. mein Vater bei unserem ersten, gemeinsamen großen Urlaub zu mir sagte: „Komm, ich zeig dir das Meer!“

Und in vielen Situationen fragte ich mich, wie hätte er wohl jetzt reagiert? Wozu hätte er mir geraten? Doch ich kann ihn nicht direkt fragen, ich kann nur auf indirekte Antworten hoffen.

Und ich kann nur hoffen, dass es dir, wo immer du auch jetzt sein magst, gut geht und du zufrieden mit deiner Entscheidung, von uns gegangen zu sein, bist. Egal, wie groß und Tief die Wunden bei uns auch sein mögen. Alles Gute für dich, Papa, ich werde immer an dich denken.

Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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