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Hinter den Kulissen einer Service-Wüste: Buchrezension zu Nils Mohl’s „Kasse 53“

Ein spannend, ironisch, lustig, interessant, informativ geschriebener Roman.

Der Leser bekommt einen kleinen Eindruck in den Alltag eines Kaufhauskassierers (im Übrigen ohne Namen).

Der Wochenalltag des Kassierers hinter der „Kasse 53“ wird auf rund 200 Seiten geschildert. Im Grunde spielt sich tagtäglich das selbe Szenario ab, nur wird an jedem Tag wieder ein neues Detail gefunden, welches es zu beschreiben gilt – und beschrieben wird hier so einiges und das nicht zu knapp. Die Schilderungen und Beschreibungen sind detailreich, ähneln oftmals einer Aufzählung, einer langen Kette von Eigenschaften und Vergleichen. Aber diese ausführlichen Beschreibungen und Aufzählungen lassen ein Bild der Personen, der Gegenstände oder der Umgebung im Kopf des Lesers entstehen. Sei es bei den unterschiedlichsten Kunden, die dem Leser begegnen oder die Landschaft auf dem Nach-Hause-Weg des Protagonisten. Apropos: Die
Informationen über den Mann hinter der Kasse Nr.53 sind dürftig. Wir erfahren nicht viel oder vielleicht doch? Bei „Kasse 53“ muss man ein wenig genauer hinschauen, denn jeder Blick zwischen die Zeilen lohnt sich; am Ende formt sich ein kleines Bild des Kassierers im Kopf des Lesers.

Aber nicht nur bei ihm lohnt sich ein ausführlicher Blick. An so vielen Stellen wird sich der eine oder andere Leser sicherlich wiedererkennen. Entweder als einer der freundlichen, unkomplizierten Kunden oder als jemand, der die Kartennummer oder das ganze Portemonai vergessen, dem ein Missgeschick passiert ist oder der sich sonst irgendwie auffällig verhält. „Kasse 53“ ist nicht _nur_ein_Roman_, sondern auch Tatsachenbericht zugleich. Hierfür reicht ein Blick in die eigene Vergangenheit (EC-Karte vergessen und Einkäufe bereits eingescannt o. Ä.) oder der Blick nach Vorne zur Kasse, wenn man wieder einmal in der Schlange ansteht und wartet, weil eine Kundin den Inhalt ihrer Handtasche über den Tresen verteilt hat.

Zur Erzählstruktur: Vielleicht etwas verwirrend.

Einen Erzähler, welcher in der ersten und dritten Person das Geschehen schildert kennt jeder, persönliche Ansprachen sind jedoch eher seltener in der Unterhaltungsliteratur zu finden. Die Erzählperspektive wechselt in
regelmäßigen Abständen zwischen den eben genannten Instanzen. „Ich“, „du“ und „der Kassierer“ und niemand nennt einen Namen, aber warum auch, eigentlich brauchen wir den auch gar nicht.

Und da geht noch mehr: Es wechselt nicht nur die Erzählweise, sondern auch die Form des erzählten Inhalts. Mal wird vom Kunden berichtet, vom Kollegen erzählt oder einfach der Kassenabschluss, der Weg nach Hause, zum Bahnhof,
der Sonntagmorgen zu Hause geschildert. Und der Kassierer philosophiert, über das Leben, die Kunden, die Frauen, Bedürfnisse, Kollegen und ihre Angewohnheiten; einfach über was man so nachdenkt. Manchmal abwägig, dennoch
immer am Alltag orientiert und nie zu abstrakt, so dass man den Gedankengängen gut folgen kann. Der Leser hat so am Leben (außen als auch
innen) des Kassierers teil. Einerseits – wie oben geschrieben – zwar distanziert, aber dennoch nah. Nicht immer weiß man, warum der Protagonist
etwas tut, warum er beispielsweise seinen Kollegen verfolgt.

Fazit oder: Was teils kompliziert auseinandergenommen wurde, kann man auch kürzer Fassen:

„Kasse 53“ ist ein sehr unterhaltsamer Roman mit hohem persönlichen Wiedererkennungswert. Ist man am Ende angekommen, so stellt man
fest, wie rasend schnell doch eine Woche verflogen ist. Und verlief diese Woche gut, gab es schöne, lustige, aufregende, spannende Augenblicke, so möchte man gerne noch einmal die Zeit zurückblättern und die Woche von vorn beginnen lassen.

 

Rezension wurde verfasst am 27.02.2008

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Wieso lobt man diesen Schundroman? Überlegungen und Kritik (eines Blinden) zum Buch „Wie Licht schmeckt“ von Friedrich Ani

Er wurde in den höchsten Tönen gelobt. 2005 erschien „Wie Licht schmeckt“, ein Jugendroman von Friedrich Ani, welcher sonst auch durch seine Kriminalromane bekanntgeworden ist.

Kurz zum Inhalt: Lukas ist 14 und ist der Ansicht, er brauche niemanden in seinem Leben. Bis er auf die drei Jahre ältere Sonja trifft und, wie könnte es auch anders sein, sich in sie verliebt. Wäre da nicht ein Haken: Sonja ist blind. Sonja führt scheinbar ihren neuen Freund in die „Welt der Blinden“ ein und Lukas durchlebt im Laufe der Romanhandlung einen Reifeprozess, denn er ist nicht, wie sonst üblich, der sympathische Protagonist, in dem man sich gerne hineinversetzt. Beide erleben verschiedenste Situationen, gehen weg, in die Kneipe, ins Schwimmbad und tun Dinge, die Jugendliche halt tun.

Soweit, so schön. Ani versucht, mit seinem Roman einen Einblick in die Gefühls- und erlebte Welt eines blinden Heranwachsenden zu bieten, mit viel Einfühlungsvermögen. Dabei verkennt er jedoch, dass sich blinde Jugendliche wirklich nicht anders benehmen, als Sehende im gleichen Alter. Denn genau dies trifft nicht auf Sonja zu.

Die blinde Sonja verhält sich asozial, kratzt, kneift, zickt, pöbelt. Wäre sie nicht blind, so meine Vermutung, hätte man ihr Handeln schon längst angeprangert. Doch so ist sie nur die selbstständige Blinde, die uns und vor allem Schülern, als Vorzeigebeispiel in der Schule vorgeführt wird, wenn es um das Thema Blindheit geht. Was ist das für ein Verhalten, wenn Lukas die Frage der Fragen stellt („Wie machst du das eigentlich?!“) und von Sonja lediglich mit einer schroffen, unfreundlichen Antwort zurückgewiesen wird? Auf wenige seiner wirklich guten, ernstgemeinten Fragen, bekommt Lukas nämlich eine ernstgemeinte Antwort. Wenn es darum geht, wie Sonja ihre Freundin gleich beim Betreten der Kneipe erkennt oder wie sie so einfach, allen Hindernissen zum Trotz, im Freibad zum Becken hechten, hineinspringen und Lukas retten konnte. Die Begründungen für diese wunderbaren Leistungen werden nur oberflächlich geliefert. Es braucht keiner Erklärung! Die Vollbringung des scheinbar unmöglichen, einer Sensation, bedarf keiner weiteren Aufklärung.

Stattdessen wird dem sehenden Leser ein Bild eines blinden Jugendlichen präsentiert, bei dem sich die Frage stellt: Woher nahm Ani seine Anregungen? Verhielten sich blinde Menschen in seinem Umfeld ihm gegenüber so unkollegial und unhöflich?

Wir Blinden brauchen uns, nach so einem Schundroman, nicht zu wundern, dass Sehende uns so schüchtern und zurückhaltend gegenübertreten. Müssen sie doch Angst haben, von uns nach gestellter Frage gleich förmlich angegriffen und zerfleischt zu werden! Ich schließe natürlich nicht aus, dass es nicht auch blinde Menschen gibt, die auf eine Frage schroff antworten. Wir alle, blind und sehend, können uns hier nie gänzlich ausschließen, jeder antwortet mal unfreundlich. Nur wird dieser Roman, genau wie „Hell und Dunkel“ von Hans-Jörg Martin, in Schulen gelesen und dürfte somit beispielhaft und vorbildhaft als Wissensvermittler dienen. Auch wenn Buchinhalte zumeist fiktiver Natur sind, können wir Leser uns nie völlig davon frei sprechen, dass wir den geschilderten Inhalten nicht einen gewissen Realitätsgehalt unterstellen – sei es beim Thema Blindheit, psychischer Erkrankung oder bei was auch immer.

Egal was Sonja tut, es gibt selten einen Rüffel. Kann sich ein blinder Jugendlicher somit alles erlauben? Was rechtfertigt ihr Verhalten: allein die Tatsache ihrer Blindheit? Jedem anderen Jugendlichen hätte man schlechte Erziehung oder schlimmstenfalls eine psychische Störung unterstellt – nur nicht Sonja. Sie wird zwar an manchen Stellen im Roman von Lukas ansatzweise zurecht gewiesen, jedoch ohne jegliche wirkliche Konsequenz. Lukas solle keine so dummen Fragen stellen, heißt es. Aber warum soll er das nicht! Sollen Sehende somit keine Fragen stellen und alles so billigen? Ist das die gewünschte Botschaft der Geschichte? Sonja hackt auf Lukas ein, beschimpft ihn, während Vanessa, ihre Freundin, scheinbar teilnahmslos daneben sitzt und alles unkommentiert lässt. Wohlmöglich hat sie die Hoffnung, eine vernünftige Antwort zu bekommen, schon aufgegeben.

Und noch etwas verdeutlicht dieser, aber auch Martin’s Blinden-Roman: Enttäusche keinen Blinden, er könnte es nicht verkraften! Mit erstaunen las ich in „Wie Licht schmeckt“, dass Sonjas Mutter Lukas beiseite nahm und ihm genau diese Botschaft vermittelte. Vielleicht besteht Hoffnung nach einer OP in Amerika, dass Sonja wieder sehen könne. Bis dahin jedoch sollte er nicht mit ihren Gefühlen spielen. Sie hätte bereits einmal Liebeskummer hinter sich und hätte sich völlig zurückgezogen. Natürlich, wer tut dies nicht?! Wer mag schon enttäuscht werden? Oder sind wir Blinden in irgendeiner Form automatisch sensibler, zartbesaiteter und empfindlicher, bloß weil wir blind sind?

Schlimm ist, dass es da draußen wirklich Menschen gibt, die genau das in die Tat umsetzen: Sie enttäuschen keinen Blinden! Lieber schlucken sie Ärger, Missmut und ihren Wunsch, etwas nicht tun zu wollen, zu Gunsten des Blinden und seiner Gefühle runter; sie könnten ihn ansonsten ja verletzen. Das Leben ist kein Rummelplatz, auch nicht für uns Blinde! Auch wir müssen, so wie jeder Sehende auch, lernen, mit Verlust, Enttäuschung und Liebeskummer umzugehen und können uns nicht hinter der Fassade Blindheit verstecken oder uns vom Sehenden hinter diese Fassade abschieben lassen.

Aber auch der Sehende sollte lernen, dass blinde Menschen auch mal schroff antworten können, ja, dass sie sogar das Recht dazu haben, so wie jeder Sehende schließlich auch. Und, wenn ihm das Lesen von Büchern wie „Wie Licht schmeckt“ schon aufgezwungen wird, dass Blind nicht gleich Blind ist – es gibt noch Licht am Ende des Tunnels, wo sich die Realität befindet.

Hat man noch vor einigen Jahren dem Kinderfernsehen eine gewisse Schädlichkeit bezüglich des stereotypen Figurenbildes und dem Einsatz von Gewalt nachgesagt, so frage ich mich, ob derartige (Schul-)Literatur nicht ohne weiteres in die Fußstapfen des Kinderfernsehens treten könnte? Was wir hier zu lesen bekommen ist ein verklärtes Bild von Blindheit und von Alltagsbewältigung. Aber es erklingen von Pädagogen, ja selbst von Literaturkritikern, große Lobeslieder auf diesen Roman. Nur warum? Erkennen Literaturkritiker und Pädagogen die hier aufgezeigten Handlungen nicht?

Ein Grund für den großen Erfolg dieses Romans mag aber auch in der Tatsache, dass viele Sehende noch nie mit einem Blinden und seiner Alltagswelt zu tun hatten, begründet sein. Aber kann das der einzige Erfolgsgrund für „Wie Licht schmeckt“ sein? In der Kritik ist sehr häufig von Einfühlungsvermögen die Rede. Dies mag der Autor zwar unter Beweis stellen, dies steigert aber nicht gleichzeitig die inhaltliche Qualität der Geschichte. Ich verlange von so einem Buch nicht, dass es die Realität zu 100 Prozent abbildet. Jedoch kann ich solche Buchfiguren nicht ungestraft auftreten und ihr Verhalten nicht ungebilligt lassen. Natürlich, Lukas ist auch kein Sympathieträger und entspricht somit auch nicht dem sonst üblichen Protagonisten, aber an seiner Stelle hätte ich die Frau schon längst zum Mond gejagt, anstatt mich ewig so blöd behandeln zu lassen – ach Moment, das geht ja nicht, ich dürfe sie ja nicht enttäuschen! Oder darf ich es doch, weil ich ja selber blind bin?

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass auch dieser Medienblinde in „Wie Licht schmeckt“, und auch das Mädchen in „Hell und Dunkel“, selbstverständlich Sonnenbrillen tragen. Es entspräche ja sonst nicht dem Medienbild eines Blinden, auch wenn dieses rein fiktiver Natur ist. In Hans-Jörg Martins „Hell und Dunkel“ kritisiert der Protagonist zunächst diese „alberne“ dunkle Sonnenbrille. Bis er merkt, dass das Mädchen blind ist. Warum kann die Kritik an der albernen Sonnenbrille nicht erhalten bleiben? Darf man Blinde nicht kritisieren? Oder ist Blindheit plus Sonnenbrille = Logisch?

„Wie Licht Schmeckt“ ist nicht der einzige Roman mit blinder Hauptfigur von Friedrich Ani. In der „Seher“-Reihe geht es um einen Ex-Polizisten, welcher im ersten Roman dieser Serie erblindet. Hier merkt man jedoch sehr gut, dass Ani im Krimi-Genre sich besser zurecht findet, als bei den Jugendbüchern. Der Blinde kommt hier nämlich wesentlich besser weg.

Zum Glück gibt es nicht nur positives von Kritikerseite über diesen Roman zu lesen. Eine Rezension, welche mal keine Lobeshymnen anstimmt, findet sich beispielsweise hier.