Sich Blind ins Getummel zu stürzen kann, egal ob auf Weihnachtsmarkt, Kirmes, Konzerten oder ähnlichen Veranstaltungen, manchmal doch eine wahre Herausforderung sein. Selbst sehenden Menschen ist das Gewusel und das Gedränge oftmals schon zu viel des Guten; gerade jetzt nach den diversen Corona-Lockdowns und -Beschränkungen, fühlt sich für viele der Besuch von vollen Restaurants, Konzerten oder Fußballstadien immernoch „falsch“ an.
Seit einigen Wochen sind Fans bei Fußballspielen wieder zugelassen! Zwar dürfen die Vereine, je nach geltenden Bestimmungen, ihre Stadien noch nicht vollauslasten, aber einem Besuch eines Spiels der Lieblingsmannschaft steht nichts mehr im Wege!
Und so führte mich mein Weg am vergangenen Samstag (02.10.21) in die Volkswagen-Arena, um mir – gemeinsam mit 12.844 Heim- und Gästefans – das Spiel gegen Borussia Mönchen-Gladbach anzuschauen.
Ich wollte außerdem herausfinden, ob es mir, als blinden Stadionbesucher ohne sehende Begleitung, möglich ist, das Wolfsburger Stadion ohne Probleme oder Einschränkungen zu besuchen? Wie hilfsbereit sind Fans oder Personal?
Der Besuch beim vFL Wolfsburg war jedoch nicht mein erster Stadiontest dieser Art. Bereits positive Erfahrungen konnte ich bei einem Besuch im Hamburger Volksparkstadion machen.
Fußballerlebnis als Blinder? Eine Vorabbemerkung
Schon seit Mitte der Neunziger Jahre gibt es sie: die Livekommentare für blinde Fußballbegeisterte in den Stadien der 1. und 2. Bundesliga. Ein ausgebildetes Team von Kommentatoren beschreibt bis ins kleinste Detail die Spielabläufe des laufenden Spiels: Welche Mannschaft ist im Ballbesitz, wer wurde gefoult, wer hat das entscheidende Tor geschossen, was passiert vielleicht auch am Spielfeldrand, etc. Über Kopfhörer bekommt man somit das Spiel ohne Zeitverzögerung kommentiert, während man nebenbei in die Live-Atmosphäre des Stadions eintauchen kann.
Diese speziellen Blindenplätze in den Stadien müssen zumeist telefonisch oder per Email gebucht werden und sind nicht im offenen Verkauf erhältlich.
Im falle des letzten Spieltages wurden jedoch die Livekommentatoren des Wölferadio Arena Live auch für die Blindenplätze übernommen. Etwas, bei dem ich mich schon viel früher fragte, warum nicht auch andere Stadien diesen Weg einschlagen und somit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Anreise
Viele Wege führen nach Rom – und gefühlt genausoviele führen ins Stadion. Entweder bequem per Bus oder nach 15- bis 20-minütigem Fußweg erreicht man die Arena. Doch Vorsicht, auch beim Fußweg gibt es mehrere Varianten. Wer nicht ortskundig ist, folgt am besten den (Gäste-)Fans, diese sind meist gut und laut zu erkennen.
Am Samstag waren wohl (wieder einmal) Züge aus Richtung Köln ausgefallen, weshalb sich ein große Zahl an Gladbacher Gästefans in den Enno RE30 verirrte, mit dem auch ich von Hannover nach Wolfsburg fuhr. Die Stimmung unter den Gästen war bereits zweieinhalb Stunden vor Anpfiff bestens; genügend Bier tat hier wohl sein übriges. Während der Fahrt bekam ich mit, dass sich außer mir noch zwei weitere Wölfefans (sogar aus Hamburg) in den Waggon verirrt hatten. Ich ergriff die Initiative und fragte die Beiden – die sich mir später als Gian und Ivan vorstellten -, ob sie mich zum Stadion mitnehmen könnten? Sie bejahten und so stiegen wir gemeinsam am Endhalt Wolfsburg aus dem Zug.
Gästefans wird oftmals vieles nachgesagt – teils nur Negatives: Sie seien laut, würden randalieren, wüssten sich nicht zu benehmen. Gleich mehrfach durfte ich mich an diesem Tag vom Gegenteil überzeugen und merken, dass man nicht alle Gäste über einen Kamm scheren und in die gleiche Ultra-Schublade stecken sollte. Beim Verlassen des Bahnsteigs passierten wir die laut singende und Gröhlende Fangruppe. Einer von ihnen, der anscheinend ein wenig das Sagen hatte und auch bei den Fangesängen den Ton angab, winkte die Gruppe beiseite, sodass wir drei problemlos passieren konnten – was Gian und Ivan auch sehr überraschte.
Will man den Bahnhof verlassen, so hat man zwei Möglichkeiten: Entweder mit dem Fanstrom durch die Bahnhofshalle oder durch den Hinterausgang am anderen Ende der Unterführung. Wer ortskundig ist, sollte unbedingt den zweiten Weg wählen und hinterm Phaeno langlaufen, man gelangt dann zu einer Treppe, die zum Förderband über die Aller in Richtung Autostadt führt.
Auf dem Weg zur Autostadt hörten wir noch weit entfernt hinter uns die johlenden Gladbacher, unser Vorsprung war jedoch groß genug, dass wir entspannt zum Stadion laufen konnten.
Einlass
Die Blindenplätze befinden sich in Block A. Auch wenn Gian und Ivan Plätze in einem völlig anderen Block gebucht hatten, begleiteten sie mich noch zum Block in der „Wölfikurve“. An der Kasse wurden die Impf- oder Testnachweise kontrolliert und zur Bestätigung ein Armband angelegt. Weiter ging es mit der Ticketkontrolle. Ich hatte zuvor noch nie mit digitalen E-Tickets gearbeitet und hoffte, ddass der Strichcode problemlos gescannt werden konnte – meine Sorgen waren jedoch unbegründet.
Ich bat den Ticketkontrolleur, mich zu meinem Platz zu bringen. Er willigte ein, jedoch übernahm kurz darauf schon jemand vom Aufsichts- und Sicherheitspersonal. Nach kurzem Zwischenstopp am Getränkestand für eine Cola und eine Bratwurst im Brötchen zur Vorab-Stärkung, brachte mich Jessica zu meinem Platz. Ich solle mich per Handzeichen melden, wenn ich etwas bräuchte, sie und ihre Kollegen würden immer mal nach mir schauen.
Das Spiel
Kurz vor Anpfiff wurden die Funkkopfhörer verteilt. Es handelt sich hier um In-Ear-Kopfhörer, die man – je nach Enge des Gehörgangs – schon etwas fester ins Ohr drücken muss, ansonsten ist der Ton nämlich sehr leise. Wie anfangs erwähnt, wurde für die Blindenplätze der Ton vom Wölferadio übernommen. Den Bemerkungen meiner Sitznachbarn zufolge, passiere das in Wolfsburg, aber auch in weiteren Stadion schon seit Längerem.
Die Liveübertragung des Netradios steht der der früheren Livekommentare ins nichts nach und man hat als blinder Stadiongast keinerlei Nachteile hieraus.
Zum Spielverlauf an sich möchte ich nicht viele Worte verlieren, stattdessen Euch lieber ein wenig an der Akustik und Atmosphäre im Stadion teilhaben lassen. Hier findet Ihr drei Audioaufnahmen, reine Stadionatmosphäre.
Wer doch noch eine Zusammenfassung des Spiels benötigt, diese findet Ihr natürlich auf der Website des VFL oder, wer es etwas neutraler haben möchte, auf den Seiten der Sportschau inkl. Highlights sowie Kommentare zum Nachhören.
- Atmo 1: Auszug Stadionhymne, Aufstellung (mein Sitznachbar war sehr laut):
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- >Atmo 2: Treffer zum 1:2 in der 24. Minute:
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- Atmo 3: Gelbrote Karte, gehaltener Elfmeter, Auswechsel:
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Nach dem Spiel
Einige Minuten nach Abpfiff, nachdem auch bereits die Kopfhörer wieder eingesammelt wurden, holte mich Jessica wieder am Platz ab und begleitete mich nach unten. Ich wollte noch einem Fanshop einen Besuch abstatten, nur leider durfte Jessica ihren Bereich nicht verlassen. Sie fragte kurzerhand jedoch andere Besucher, ob sie in Richtung des Fan-Hauses laufen und mich ein Stück begleiten würden? Eine Familie mit zwei Kindern nahm sich meiner an und geleitete mich bis vor den Eingang des Fanshops. Die Frau erzählte, sie hätte bis vor Corona auch im Stadion gearbeitet, nach den Lockdowns sei das Personal jedoch reduziert worden. Zwar fand sie es schön, auch mal ein Spiel mit ihrer Familie anschauen zu können, ohne dabei arbeiten zu müssen, etwas Wehmut war ihren Erzählungen dennoch deutlich anzuhören.
Vor dem Fanshop herrschte starkes Gedränge, sodass der Einlass auch hier vom Security-Personal geregelt wurde. Wir fragten, ob mir jemand beim Einkaufen behilflich sein würde, ich rechnete schon stark mit einem „Nein“ der vielen anderen Kunden wegen, wurde jedoch positiv überrascht. Gleich zwei Verkäuferinnen lieferten eine Beratung, die in manch Bekleidungsgeschäft ihresgleichen sucht. Während die erste Verkäuferin mit die Sachen ausführlich beschrieb, war eine zweite Kollegen im Hintergrund schon unterwegs, um noch weitere Sachen zu holen, die mir vorgeschlagen wurden. Am Ende entschied ich mich für den Hoodie mit Wölfe-Logo; das Angebot, ihn mit „CL 2021“ in Form einer Art Nummernschild bedrucken zu lassen, nahm ich gerne an.
Nach getätigtem Kauf beschrieb man mir noch grob den Weg in Richtung Autostadt. Hier merkte ich schnell, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, Richtung Bahnhof zu kommen. Da die Gäste aus Gladbach wegen des gewonnenen Spiels verständlicherweise (nein… leider!) sehr guter Laune waren, fiel es mir auch nicht schwer, mich ansatzweise zu orientieren. Einfach den Rufen und Gesängen nach. Unterwegs traf ich auf mehrere Grüppchen von Gästefans, jedoch kaum auf einen von uns. Hatten die meisten von uns fluchtartig das Stadion verlassen oder bleiben viele auch nach dem Spiel noch eine Weile im Stadion? Nen Gladbacher brauchte ich das wohl kaum zu fragen.
Das letzte Fangrüppchen, auf das ich traf, kam aus Berlin und war, wie ich, auf dem Weg zum Bahnhof. In 17 Minuten sollte ihr Zug gehen, jedoch ließen sie sich trotzdem nicht aus der Ruhe bringen. Sie boten mir an, mich mit zum Bahnhof zu nehmen. Und so lief ich in voller VFL-Montur inmitten von gutgelaunten Gladbach-Fans. Wir kamen ins Gespräch, unterhielten uns über das Spiel, aber auch über meine Erfahrungen während meines Stadionbesuchs.
Am Bahnhof angekommen, verabschiedeten die Gladbacher aus Berlin sich, zeigten mir jedoch vorher noch die ungefähre Richtung, in der ich einen Imbiss finden könne. Direkt gegenüber des Bahnhofs befindet sich ein Imbiss, der Döner, Pizza & co anbietet. Wie man sich denken kann, war der Laden rappelvoll. Ich fand recht schnell den Tresen und wurde auch sogleich von (wieder einem Gladbacher) Fußballfan angesprochen. Was ich denn bestellen wolle, er würde das für mich übernehmen! Ich lehnte zunächst dankend ab, bestellen kriege ich noch alleine hin. Er ließ sich jedoch nicht beirren und wollte am Ende mich auch zur Pizza einladen. Sie hätten uns drei Punkte geraubt, da könne man ja schließlich auch mal großzügig sein. Es gibt so einen gewissen Punkt, bis diesem man Einladungen ablehnen kann, ab dem es aber unhöflich wird, es weiterhin zu tun. Ich hatte das Gefühl, dieser Punkt sei erreicht, bedankte mich bei Jan – so hieß der spendable Gladbachfan – und hielt 10 Minuten später eine dampfende Pizza im Karton in den Händen.
Jan und sein Kumpel begleiteten mich noch über die Straße, hinein ins Bahnhofsgebäude und bis zum Gleis, übergaben mich einer genervten Zugbegleiterin und verabschiedeten sich.
Fazit: Verloren, aber dennoch auch irgendwie gewonnen
Bei vielen Freizeitaktivitäten wird einem, wenn man blind teilnehmen möchte und eben keine sehende Begleitung hat, gerne Steine in den Weg gelegt. Umso gespannter war ich, wie es sich beim Besuch der Volkswagen-Arena verhalten würde.
Der Testbesuch war ein voller Erfolg. Zwar nicht spielerisch, dafür jedoch aber, was das Hinkommen, Reinkommen und Klarkommen anbelangte. Sowohl Fans beider Mannschaften als auch das Personal vor Ort war jederzeit behilflich. Egal ob beim Hinweg, beim Einlass, im Shop oder auf dem Weg zurück zum Bahnhof, ich hatte nie das Gefühl, mich verloren zu fühlen. Selbst die leicht angetrunkenen Fans sorgten bei mir nie für Unsicherheit oder – wie viele andere es teils empfinden – Angst.
Ein Dankeschön geht an dieser Stelle nochmal an all diejenigen, die mich am Samstag helfend unterstützt haben!
Natürlich ist der Besuch eines Fußballspiels eine Aktivität, die in der Gemeinschaft vielmehr Spaß macht. Wenn Letzten Endes geht man aber seiner Mannschaft wegen ins Stadion und am Ende feiert man sowieso gemeinsam ein Tor oder den gehaltenen Elfmeter. Da spielt es überhaupt keine Rolle mehr, wen man nun kennt oder nicht. Dieses Gemeinschaftsgefühl wieder zu erleben, das Mitsingen der Stadionhymne, das Auf und Ab der Stimmung, sorgten über 90 Minuten lang für ein Gänsehaut-Feeling, das einfach unbeschreiblich ist.