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Zu Gast unter Wölfen: Blind in der Volkswagen-Arena – Ein Erfahrungsbericht

Sich Blind ins Getummel zu stürzen kann, egal ob auf Weihnachtsmarkt, Kirmes, Konzerten oder ähnlichen Veranstaltungen, manchmal doch eine wahre Herausforderung sein. Selbst sehenden Menschen ist das Gewusel und das Gedränge oftmals schon zu viel des Guten; gerade jetzt nach den diversen Corona-Lockdowns und -Beschränkungen, fühlt sich für viele der Besuch von vollen Restaurants, Konzerten oder Fußballstadien immernoch „falsch“ an.

Seit einigen Wochen sind Fans bei Fußballspielen wieder zugelassen! Zwar dürfen die Vereine, je nach geltenden Bestimmungen, ihre Stadien noch nicht vollauslasten, aber einem Besuch eines Spiels der Lieblingsmannschaft steht nichts mehr im Wege!

Und so führte mich mein Weg am vergangenen Samstag (02.10.21) in die Volkswagen-Arena, um mir – gemeinsam mit 12.844 Heim- und Gästefans – das Spiel gegen Borussia Mönchen-Gladbach anzuschauen.

Ich wollte außerdem herausfinden, ob es mir, als blinden Stadionbesucher ohne sehende Begleitung, möglich ist, das Wolfsburger Stadion ohne Probleme oder Einschränkungen zu besuchen? Wie hilfsbereit sind Fans oder Personal?

Der Besuch beim vFL Wolfsburg war jedoch nicht mein erster Stadiontest dieser Art. Bereits positive Erfahrungen konnte ich bei einem Besuch im Hamburger Volksparkstadion machen.

Ich stehe, bekleidet mit einem VFL-Trikot, einem Schal sowie einer Cap, vor dem Eingang der Volkswagen-Arena

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Gedanken-Gänge 47 – Von Lob und Anerkennung oder: Zwischen positiver Diskriminierung und unserer eigenen Dünnhäutigkeit

In einer Gruppe mit anderen ebenfalls Blinden bzw. Sehbehinderten, führte ich jüngst eine Diskussion, in der es um Lob und Anerkennung von alltäglichen Dingen aufgrund unserer Sehbehinderung ging. Sei es das Überqueren einer Straße, das sich Durchmanövrieren an engen Stellen auf dem Bürgersteig, Zug fahren, Einkaufen, das gepflegte Äußere – es gibt soviele Dinge, die für uns alltäglich, für den Mensch ohne eine Behinderung jedoch – wenn er in unserer Situation wäre – die allergrößte Herausforderung wäre. Doch dieses Lob ist es, das viele stöhrt und inzwischen sogar einen eigenen Namen bekommen hat: „Positive Diskriminierung“. Grund genug, für all die Lobenden endlich mal eine Lanze zu brechen und zudem einmal selbstkritisch zu hinterfragen, seit wann wir eigentlich so extremst dünnhäutig geworden sind?

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Als Blinder auf der Düsseldorfer Rheinkirmes 2019 – Der Testbericht

Sommerzeit ist vielerorts gleichzeitig auch Kirmeszeit. Gerade im Juli und August finden deutschlandweit viele kleine und große Volks- sowie Schützenfeste statt. Eines der Kirmes-Highlights dürfte auch dieses Jahr wieder unumstritten die Rheinkirmes in Düsseldorf sein, die gerne auch als „Größte Kirmes am Rhein“ bezeichnet wird.

Bereits 2017 konnte ich die Rheinkirmes für Parkerlebnis.de bei einem elf Fahrgeschäfte umfassenden Besuch ausführlich testen; rund zwei Jahre später stand nun ein Folgetest auf dem Programm. Gleich am ersten Kirmes-Wochenende stattete ich der „Größten Kirmes am Rhein“ einen erneuten Besuch ab – diesmal begleitet von Alexander Louis, einem Kollegen bei Parkerlebnis.de, der das ganze Geschehen inkognito im Hintergrund beobachten wollte.

Rheinkirmes 2019 von oben | Bild Copyright Alexander Louis, Parkerlebnis.de

Wir hatten uns vorweg darauf verständigt, dass er – soweit es eben ging – sich aus dem Geschehen heraushalten und nicht eingreifen sollte, selbst wenn ich in einer Situation vielleicht Hilfe benötige. Denn nur so kann ein solcher Testbesuch all seine positiven als auch negativen Facetten aufzeigen. Eines sei zudem auch gleich vorab verraten: Auch wenn alle Testfahrten zustande kamen, verließen wir den Festplatz am Ende mit gemischten Gefühlen.

Der Schwerpunkt bei dem ausführlichen Kirmestest lag in diesem Jahr nicht nur auf den rasantesten und adrenalingeladensten Attraktionen. Ich habe mich diesmal nämlich bemüht, sowohl familiengerechte als auch schnellere Karussells mit in meinen Test einzubeziehen.

Der Break Dancer des Schaustellers Bruch auf der Rheinkirmes 2019 | Bild Copyright Alexander Louis, Parkerlebnis.de

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Als Blinder auf dem Wiener Prater – Der Testbericht

Boomerang Achterbahn im Wiener Prater | Bild Copyright Christian Ohrens, Parkerlebnis

Freizeitparks blind zu erleben und zu nutzen ist hierzulande immer noch nicht vollends von Erfolg gekrönt. Es gibt derzeit noch keine einheitliche Regelung, ob blinde Parkbesucher eine Begleitung benötigen, ob sie auch ohne Begleitung fahren dürfen oder ob ihnen sogar eine Mitfahrt verwehrt bleibt.

Hingegen scheint hierzulande die Nutzung von Kirmesattraktionen und -fahrgeschäften problemloser vonstatten zu gehen. Hier konnten wir bis jetzt eine Hilfsbereitschaft beobachten, die in manch anderen Bereichen der Freizeitgestaltung ihresgleichen sucht.

Schaut man einmal über den Tellerrand hinaus, so konnten wir bei bisherigen Tests ausländischer Parks – mit Ausnahme des Disneyland Paris – feststellen, dass die Themen Hilfsbereitschaft, lösungsorientiertes Handeln und der Umgang mit Menschen mit Handikap allgemein einen ganz anderen Stellenwert zu genießen scheinen. Zwar können die bislang getesteten Parks (Tivoli Gardens, Thorpe Park sowie Efteling) nicht für alle Freizeitparks des jeweiligen Landes sprechen, sie gehen in jedem Fall aber mit gutem, teils bewundernswertem Beispiel voran. (Siehe auch: Freie Fahrt, auch für Blinde: Warum Christian Ohrens Freizeitparks als Blinder testet – Interview)

Eine Ausnahmestellung in puncto Freizeitparks dürfte der Wiener Wurstelprater genießen, vereint er doch praktisch sowohl den Flair einer Kirmes mit der Atmosphäre eines Freizeitparks. Die Fahrgeschäfte werden hier nicht von einem zentralen Unternehmen geführt, sondern obliegen der Führung einzelner Schausteller beziehungsweise Unternehmen.

Das Riesenrad ist das Wahrzeichen des Wiener Wurstelpraters | Bild Copyright Christian Ohrens, Parkerlebnis

Wie verhält es sich nun in Wiens Adresse Nr. 1, wenn es um Achterbahn, Karussell und Co. geht, hinsichtlich der Nutzbarkeit durch einen blinden Gast? Im Rahmen unserer bei Parkerlebnis.de durchgeführten Testreihe fand ich dies im Oktober dieses Jahres heraus!

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Gedanken-Gänge XXXV – Teilhabe ist kein Kompromiss

Seit inzwischen mehreren jahren wird, auf politischer Ebene, aber auch vor allem in Betroffenenkreisen, in sozialen Medien und Foren heiß darüber diskutiert, ob und inwieweit eine uneingeschränkte und ungeteilte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft erfolgen kann und muss – einerseits äußerst löblich, zeigt es doch, wie groß das Interesse und Desinteresse, egal von welcher Seite, für dieses Anliegen ist. Andererseits wird genau diese Diskussion ermüdender denn je; warum, dazu hier ein paar Zeilen.

„Eine ausnahmslose Teilhabe kann und wird es nicht geben!“ – so die Hauptaussage, die in vielen Diskussionen, auch und vor allem inzwischen unter Betroffenen, am Ende eines Diskussionstages im Raum stehenbleibt. Versucht man die Argumente für diese Aussage nachzuvollziehen, schlackert man am Ende nur mit den Ohren. Denn selbst behinderte Menschen fangen an, dem nichtbehinderten Betreiber von Freizeitanlagen eine gewisse Handlungsfreiheit zu attestieren, wen er was in welchem Umfang nutzen lässt. Ferner wird im gleichen Atemzug meist angeführt, dass es eine 100 prozentige Teilhabe sowieso nicht geben kann, denn dann müssten wir auch zukünftig blind autofahren können – was doch für ein hinkender Vergleich!

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Gedanken-Gänge XXXIV – „Was ist, wenn etwas passiert?“ oder: Von der Angst, dass irgendwann einmal etwas passieren könnte…

Immer, wenn es um Teilhabe und Teilnahme von Menschen mit Behinderung geht, ob nun Konzerte, Schwimmbad, Freizeitpark & co., hört man leider mehr Stimmen, die von Ausschlüssen und Teilnahmeverboten berichten, als umgekehrt. Und immer, wenn daraufhin Diskussionen entfachen, an denen sich nicht nur Betroffene, sondern meist auch nicht Betroffene beteiligen, ist ein Satz schon vorprogrammiert: „… und wenn etwas passiert?“.

Ich weiß nicht, ob das so ein typisch Deutsches Ding ist, die Angst vor dem ominösen „Wenn“ und „Hätte“. Vor allmöglichen Widrigkeiten wollen wir uns schützen – einerseits verständlich, vor allem aus der Sicht eines Betreibers von was auch immer für einer Freizeiteinrichtung.

Doch schießt man sich mit diesem „Wenn“ nicht sogar mehr ins Abseits und macht sich erst recht in gewisserweise „angreifbarer“?

Wo in anderen Ländern gefühlt einfach mal „gemacht“ wird und man nicht ewig die Negativkonsequenz im Hinterkopf hat, findet hirzulande der Ausschluss noch vor der eigentlichen Teilnahme statt: auf dem Papier oder im Internet, in Zugangsbeschränkungen und Nutzungsregeln, in Tüv-Bestimmungen oder anderen, ähnlich gelagerten Dingen. Allen gemein ist das angebliche Wissen über die Fähigkeiten, die ein Besucher mit Behinderung hat – oder eben nicht hat. Ob das ganze nun Hand und Fuß hat und vernünftig belegt und recherchiert wurde, vollkommen egal, denn „wenn etwas passiert“, wir sind vorbereitet!

Aber die Frage nach dem „Wenn“ und „Aber“ begegnet uns ja nicht nur bei solch Freizeitunternehmungen wie dem Schwimmengehen oder einem Festivalbesuch. Bei viel banaleren Dingen dürfen wir uns immer und immer wieder diese eine Frage anhören. Ob bei Reisen, beim Discobesuch, beim nächtlichen Heimkommen, ja selbst bei so Alltagsdingen wie dem Kochen. Als Mensch mit Behinderung muss man sich immer mit dem „Wenn“ der Nichtbehinderten, also dieser unterschwelligen Befürchtung, dass etwas passieren könnte, auseinandersetzen. Viele vergessen dabei, dass jedem zu jeder Zeit etwas passieren kann, egal wann wie und wo.

Die Antwort hierauf kann einfacher nicht sein: Was ist, wenn etwas passiert? Dann passiert es eben! Wir werden es vorab eh nicht wissen, wir können ja nicht hellsehen und das Leben hält eben nicht immer nur positive Ereignisse parat – so nüchtern traurig man dies auch finden mag.

Der Betreiber von Freizeitanlagen will sich, das ist immer die nächste Argumentation, durch dieses „Wenn“ bloß absichern. Aber war da nicht mal was mit Handeln auf eigenes Risiko oder so? Doch dieser Wille nach Risiko wird einem ja förmlich aberkannt – nichts mehr von wegen „no risk, no fun“! Und die schlechte Publicity, böse Medienmeldungen oder gar eine Schadensersatzklage kommen ja für viele als Angstszenario noch obendrauf.

Womit wir auch beim eigentlichen „Problem“ des „Wenns“ wären: Es ist die Angst, die, meist Außenstehende, zu dieser „Wenn“-Frage verleitet. Als Optimist kann ich dazu nur sagen: Wenn ich mir immer vorher die Frage stelle, was wäre, wenn, würde ich viele Dinge doch gar nicht mehr machen – selbst die einfache Straßenüberquerung könnte somit zur größten Gefahr werden; was ist nämlich, wenn einer bei Rot fährt? Was ist, wenn das Flugzeug abstürzt? Einer eine Bombe zündet? Ich des Nachts überfallen werde? Aber nach sowas fragt man nicht! Denn sonst könnten wir uns alle gleich selber begraben.

Und wenn dann doch etwas passiert? Dann sind sogleich die mit dem erhobenen Zeigefinger da („Hab ich’s dir nicht gesagt?!“). Aber meistens passiert ja eben… NICHTS! Und trotzdem, für diese vielleicht 1- 2- 3- von mir aus auch 5% des Restrisikos rennen Aktivisten, Teilhabe- und Inklusionskämpfer gegen Windmühlen an. Denn die wichtigste „Wenn“-Frage traut man sich erst gar nicht zu stellen: Was ist, wenn man uns überhaupt nicht teilhaben lassen will? Aber das ist wieder ein ganz anderes, neues Thema…

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Gedanken-Gänge XXXIII – Dienstleister mit Handikap oder: Inklusion ist, wenn wir unsere Behinderung nicht ewig thematisieren und uns wegen ihr verteidigen müssen

Fast zehn Jahre arbeite ich nun bereits als mobiler DJ. Ich war auf zahlreichen Veranstaltungen und Feiern unterwegs, ob in Hamburg oder sonstwo in Norddeutschland, Berlin oder sogar Köln. Und seit zehn Jahren muss ich mich mit der Frage auseinandersetzen, wann, ob und wie ich meine Blindheit mit ins Spiel bringe?

Ich erinnere mich noch gut an eine Hochzeitsmesse 2011 in Wolfsburg. Der Veranstalter diskutierte mit mir, dankenswerter Weise auf sehr sachlicher Ebene, ob ich meine Blindheit „ankündigen“ oder nicht sogar als Marketing instrument gebrauchen sollte. Seit jeher lehne ich diese Art der Offensivbekanntmachung ab. Ich bin DJ aus Überzeugung, mache Musik und da spielt es keine Rolle, ob ich nun blind bin oder nicht.

Da man jedoch nicht vollends am Markt vorbeiarbeiten kann, fügte ich nach und nach kleine Hinweise auf meiner DJ-Website hinzu, anhand Interessierte durchaus in der Lage sein sollten, meine Blindheit herauszulesen. Ob nun bei meinem Slogan: „Blindes Vertrauen in die Musik“ oder meinen FAQs, wer sich wirklich informieren und mit dem Menschen auseinandersetzen möchte, den er da bucht, kann durchaus nicht behaupten, er oder sie hätte nichts davon gewusst.

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Als Blinder auf großer Fahrt: Sind Kreuzfahrtschiffe ohne sehende Begleitperson überhaupt nutzbar?

Seit einigen Jahren erfreuen sich Kreuzfahrten auf Flüssen und Weltmeeren sehr großer Beliebtheit. Begehrte Reiserouten und Kreuzfahrtziele sind bereits Monate vor dem eigentlichen Reisetermin ausgebucht – Schnellsein lautet bei der Buchung also die Devise.

Neben der Frage, welche Route man gerne auf seiner Kreuzfahrt entlangreisen und welche möglichen Städte man besuchen möchte, stellt sich vor allem Menschen mit einer Behinderung die sehr berechtigte Frage, ob eine Kreuzfahrt unter den jeweils gegebenen Umständen das „richtige“ Reiseangebot für sie ist?

Zwar gibt es für blinde und sehbehinderte Menschen, neben der einfachen Möglichkeit des Reisens mit einer Begleitung (z. B. Freund oder Partner), auch die Option, sich einer speziellen Reisegruppe anzuschließen, denn hier kann im Bedarfsfall für eine Begleitperson gesorgt werden, doch sicherlich ist das Reisen in Gruppen nicht jedermanns Geschmack bzw. mögen es auch einige auch eher individueller. Sich beim alleine Reisen ohne sehende Begleitung in Städten oder im gebuchten Hotel durchzufragen, um ans gewünschte Ziel zu kommen, stellt in der Regel keinerlei Probleme dar. Doch wie verhält es sich, wenn man als blinder Reisender eine Kreuzfahrt buchen und antreten möchte, jedoch ohne einen Sehenden unterwegs ist? Gibt es Seitens der Veranstalter bzw. der Reedereien Einschränkungen bei der Nutzbarkeit ihrer Kreuzfahrtschiffe für einen blinden Gast? Oder wird man auch als Blinder – wie der sehende Passagier auch – mit offenen Armen empfangen und kann seinen Aufenthalt an Bord uneingeschränkt genießen?

Um dieser Frage nachzugehen, startete ich im vergangenen Jahr eine kleine Recherche bei den bekanntesten Reedereien und Kreuzfahrtanbietern, welche Kreuzfahrten im In- und Ausland anbieten, ob es blinden Passagieren, auch ohne einer sehenden Begleitung, möglich und erlaubt sei, an einer Kreuzfahrt auf eines ihrer Schiffe teilzunehmen. Insgesamt wurden vierzehn Anbieter und Reedereien angeschrieben, die Antworten fallen teils sehr unterschiedlich aus – wie die folgende Auswertung zeigt.

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Gedanken-Gänge XXX – Inklusion? Aber nur, soweit die Nichtbehinderten es zulassen!

Inklusion – für viele gehört sie inzwischen zu einem der wichtigsten Güter in unserer modernen Sozialgesellschaft, für andere wiederum ist sie wie ein belastender Klotz am Bein. Diese „Belastung“ bekommt man indirekt vor allem dann zu spüren, wenn man sich die zahlreichen Negativmeldungen von überforderten Lehrern und dergleichen anschaut.

Böse Zungen sagen, dass Inklusion nur dann akzeptabel und umsetzbar ist, wenn sie dem Nichtbetroffenen nichts kostet, weder Aufwand, Nerven, Umdenken oder Geld: Bloß nichts verändern oder anders machen, schon gar nicht, wenns was kostet!

Wie ich in einem früheren Beitrag bereits schrieb, kann Inklusion teilweise auch gar nicht funktionieren, so lange wir Behinderung immer nur als solche, also als eine Einschränkung, betrachten. Denn in der Diskussion schwingt bei Nichtbetroffenen immer der unterschwellige Wunsch mit, dass es irgendwann einmal der Medizin möglich sein sollte, Behinderungen gar nicht erst auftreten zu lassen oder sie später dann zu beseitigen. Bis dahin mögen wir uns bitteschön weiterhin unterbuttern lassen.

Gerade im vergangenen Jahr sorgte ein Vorfall hier in Hamburg, zumindest kurzzeitig, mal für ein wenig Wirbel im Inklusionswasserglas. Der Fall hat sich inzwischen, wenn auch nur annähernd, geklärt, ist aber ein perfektes Paradebeispiel dafür, wie Menschen heute über Teilhabe denken.

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Gedanken-Gänge XXVIII – Vielen Dank fürs Auge leihen oder: Über Alltagshelfer, die keiner mehr eines Wortes würdigt!

Sie sind zur Stelle und stehen einem mit Rat und Tat zur Seite, sie leihen uns manchmal ihr Auge, manchmal helfen sie ungefragt und übereifrig, aber im Grunde kann man sich auf sie verlassen. Sie sind Alltagshelfer, die wir – im Zeitalter von Smartphone und helfenden Apps – jedoch keines Wortes mehr zu würdigen scheinen: Passanten.

Heute, wo fast ein jeder von uns den ständigen, smarten Begleiter mit sich führt und auf selbigem oftmals zahlreiche Apps zur Alltagsunterstützung und Navigation vorhanden sind, scheinen – so zumindest mein persönlicher Eindruck – viele von uns Blinden tatsächlich lieber der technischen Errungenschaft, statt dem menschlichen Auge zu (ver)trauen. Ob nun die App zur Erkennung von Hindernissen, zur Beschreibung von Gegenständen, zur Orientierung in einem bestimmten Terrain oder bei der mobilen Erkennung eines Textes, überall können heute Smartphoneapps zum Einsatz kommen und somit das menschliche Auge ersetzen.

Vielleicht gehöre ich zu der Übergangsgeneration, welche noch ohne smarten Helfer aufgewachsen ist und es somit noch lernen musste, uns auch ohne Technik zu organisieren und die Alltagsherausforderungen zu bewältigen. Wer heute aufwächst, braucht dieses nicht mehr unbedingt, immer mehr Apps sind auf dem „Vormarsch“ und sollen uns Blinden den Alltag erleichtern und somit das fehlende Augenlicht wieder wettmachen.

Unterschwellig schwingt hier eine Grundeinstellung mit, nach der das Alltagsleben nur dann vollkommen zu sein scheint, wenn wir auch wirklich alles ohne sehende Hilfe erledigen und bewältigen können. Dass es keine „Schande“ ist, auch mal die Hilfe Sehender inanspruch zu nehmen, vergessen wir scheinbar im Smartphonealltag gerne mal.

Dabei ist der Sehende oftmals dem Smartphone in Geschwindigkeit und Auffassungsvermögen um Längen voraus! Das Smartphone muss zunächst „prepariert“ werden, d. h. es muss aus der Tasche gekramt, die benötigte App gestartet und die passende Funktion ausgewählt, das Ziel eingegeben oder sonst eine Justierung vorgenommen werden. Dem Passanten brauche ich nur zu sagen, was ich an Hilfestellungen benötige. Er wird vielleicht nochmals genauer nachfragen, kann aber grundsetzlich sofort agieren. Natürlich, auch er kann sich mal irren, nicht richtig hinschauen etc., aber ist nicht das „Risiko“, dass der smarte Helfer etwas nicht richtig erfasst, erkennt und auswertet immens höher?

Und nichts geht über Ortskenntnisse. Denn die Karten meines Handys sind nur so gut, wie sie jemand „gezeichnet“ und programmiert hat. Laut einem Städteplaner, dessen Vortrag ich im vergangenen Jahr lauschen durfte, kann eine Navi-App eine Abweichung zwischen 5 und 25 Metern haben. Im Einbahnstraßengewirr einer Altstadt sind 5-25 M vielzuviel! Das Kartenmaterial wird ständig besser und unsere Karte im Kopf dadurch immer schlechter – dies passiert leider auch bei den Sehenden. Sie vertrauen streckenweise auch nur noch auf ihr Navi, anstatt ihrer Ortskenntnisse. Doch – und dies ist nach meinem Empfinden eher die Regel – hat man sehr häufig schneller jemanden gefunden, der den Weg kennt und auch ansatzweise beschreiben kann. Bevor ich mich mit dem Navi verlaufe, weil die Ortung oder die Karte nicht stimmen, vertraue ich lieber dem Menschen. Irren ist zwar menschlich und ein Verlaufen somit oftmals unumgänglich, unzureichend programmierte Technik ist ärgerlich und dient somit höchstens als ergänzendes Beiwerk und nicht als vollkommener Passantenersatz.

Natürlich – ich lebe in einer Großstadt. In der Millionenmetropole Hamburg findet sich immer jemand, den man fragen kann, es sei denn, ich befinde mich im abgelegendsten Winkel… aber selbst hier hilft dann auch oft kein Navi mehr.

Mit der heutigen Technik könnte ich als Blinder durch Apps oder Zusatzgeräte sogar in der Lage sein, Beschilderungen zu erkennen. Doch um zu wissen, wo sich genau das Schild oder das Display befindet, welches ich lesen möchte, müsste ich einen Sehenden fragen – dieser kann mir das Schild jedoch auch gleich vorlesen und ich laufe nicht Gefahr, dass die Texterkennung nicht richtig funktioniert und ich mich wieder neu ausrichten muss, um das Schild besser mit dem Handykameraauge erfassen zu können.

Technik zu benutzen, so mal die Begründung von einigen Leuten, mit denen ich mich vor einiger Zeit zu diesem Thema ausgetauscht habe, bedeutet auch, sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen zu müssen, weil sie einem z. B. im Restaurant die Speisekarte nicht vorlesen wollen. Jedoch sollte der Kellner besser über das Angebot, über eventuelle Tagesgerichte etc. Bescheid wissen, welche dann auch nicht in der online verfügbaren Speisekarte verzeichnet sind, die ich vorher hätte herunterladen und lesen können.

Außerdem ist Helfen lassen kommunikativ! Wir können so im Idealfall mit anderen Leuten ins Gespräch kommen, können uns Austauschen; etwas, dass ja heute auch immer mehr an Bedeutung verliert, da ein jeder nur noch mit sich selbst beschäftigt ist und ein Ansprechen für viele schon ein Eindringen in die Privatsphäre bedeutet.

Und auch wenn auch ich in vielen Beiträgen über den Umgang durch sehende Menschen eher negativ berichte und ihn in vielen Punkten kritisiere, so ist es auch mal an der Zeit, genau deswegen einfach mal Danke zu sagen. Danke für unzählige Situationen, in denen wir Eure Hilfe benötigt haben und Ihr uns bereitwillig etwas von Eurer Zeit, quasi Euer Auge oder Euer Wissen geliehen habt. Denn im Zeitalter, wo hierzulande scheinbar ein jeder auf sein Smartphone glotzt und sich selbst nur noch der nächste zu sein scheint, ist sowas leider nicht mehr selbstverständlich.