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Gedanken-Gänge 47 – Von Lob und Anerkennung oder: Zwischen positiver Diskriminierung und unserer eigenen Dünnhäutigkeit

In einer Gruppe mit anderen ebenfalls Blinden bzw. Sehbehinderten, führte ich jüngst eine Diskussion, in der es um Lob und Anerkennung von alltäglichen Dingen aufgrund unserer Sehbehinderung ging. Sei es das Überqueren einer Straße, das sich Durchmanövrieren an engen Stellen auf dem Bürgersteig, Zug fahren, Einkaufen, das gepflegte Äußere – es gibt soviele Dinge, die für uns alltäglich, für den Mensch ohne eine Behinderung jedoch – wenn er in unserer Situation wäre – die allergrößte Herausforderung wäre. Doch dieses Lob ist es, das viele stöhrt und inzwischen sogar einen eigenen Namen bekommen hat: „Positive Diskriminierung“. Grund genug, für all die Lobenden endlich mal eine Lanze zu brechen und zudem einmal selbstkritisch zu hinterfragen, seit wann wir eigentlich so extremst dünnhäutig geworden sind?

Die Sache mit der Anerkennung

Zugegeben, manchmal komme auch ich mir etwas komisch vor, wenn mich eine wildfremde Person in der Bahn, auf offener Straße oder sonstwo, für meinen Alltag lobt. Entweder, weil wir uns zuvor ein wenig unterhielten und ich ihr ein wenig aus meinem Leben erzählte oder nur aufgrund der wenige Sekunden dauernden Beobachtung, wie ich diese oder jene Situation aktuell gemeistert hatte.

Im ersten Moment fragte auch ich mich: Warum? und Wofür?

Und neuerdings muss man sich zudem auch fragen: Worin besteht hier die „Diskriminierung“?

Aus Sicht vieler, ob nun Pädagogen oder Aktivisten, besteht die positive Diskriminierung darin, dass scheinbar bei vielen von uns bei ausgesprochenem Lob eine unterschwellige, nicht geäußerte weitere Aussage mitklingt: „Ich hätte nicht geglaubt, dass du dazu in der Lage bist!“ Frei nach den Kommunikationsmodellen von Schulz von Thun, nach denen eine Aussage immer mehrere Ebenen enthält (Beispiel: „Es ist grün“, was sachlich bedeutet, dass die Ampel umgeschaltet hat und auf der nächsten Ebene jedoch auch bedeuten könnte: Bist du blind? Fahr doch!). Doch dieses ewige zwischen den Zeilen lesen wird, so meine feste Überzeugung und auch teils Erfahrung, in diesem Fall total überbewertet! Denn woher will ich denn wirklich wissen, wie „böse“ die Person uns gegenüber ihre Aussage wirklich meinte? Wenn wir schon glauben, zwischen den gesprochenen Zeilen lesen zu müssen, dann sollten wir das auch vernünftig tun und dabei Tonalität (wie wird gesprochen bzw. betont) sowie Mimik und Gestik (sofern wir sie wahrnehmen) nicht außer Acht lassen.

Ein Perspektivwechsel

Ich veranstalte hier in Hamburg besondere Touren, bei denen sehende Teilnehmer die Augen verbunden und einen Blindenstock ausgehändigt bekommen und in Begleitung die Innenstadt, den Hafen oder einen anderen Bereich Hamburgs erkunden. Dies erlaubt einen enormen Perspektivwechsel, denn die Sehenden sind es, die jeztt einmal hautnah erleben dürfen, wie es sich anfühlen könnte, für rund zwei Stunden seinen Alltag quasi blind zu meistern, mit allen Hürden und Hindernissen, die einem dabei so über den Weg laufen bzw. im Weg stehen könnten.

Was alle bisherigen Geste dabei gemeinsam hatten, war das Erfolgserlebnis. Egal ob Geldautomat, Laternenmast, Baum, Tische und Stühle, E-Roller, ein Wühltisch mit Klamotten, das Essen eines Snacks – auf einmal ist das Leben voller (für sie) neuer Erfolgserlebnisse. Dinge, die so alltäglich sind, wie das morgentliche Aufstehen, werden mit einem Schlag zur allergrößten Challenge, die es zu bewältigen gilt.

Folgt man jedoch der Argumentation der Lobes-Kritiker, gäbe es auch für die Gäste jetzt keinen Grund zum Jubeln. Denn es sind ja immer noch Alltagsdinge, die sie (er)leben, nicht mehr, nicht weniger.

Dennoch ist es für sie pure Bestätigung, die man als Tourguide dann auch unbedingt anerkennen muss, wenn sie am Ende stolz im Kopf all die Dinge Revue passieren lassen, die sie in den vergangenen Minuten erlebt und erkannt haben.

Dies bedeutet dann auch, dass sich natürlich viele nicht behinderte Menschen den Alltag eines z. B. Blinden unheimlich „schwierig“ vorstellen – irgendwie ja auch verständlich, woher sollen sie es auch aus eigener Erfahrung wissen. Auch wenn es durch soziale oder digitale Medien genügend Informationsmöglichkeiten hinsichtlich unseres Alltags, unseres Könnens gäbe, gehen sie an vielen ungesehen vorbei, so wie auch wir natürlich über vieles nichts wissen. Es ist daher nur logisch, dass kleine Alltagsdinge auf einem Schlag zur größten Sache der Welt werden. Wenn wir dies endlich verstehen und vor allem auch verinnerlichen, glauben wir dann immer noch, dass uns ausgesprochene Anerkennung positiv diskriminiert?

Wenn ich du wäre…

Wenn uns Menschen für für uns Alltägliches loben und uns Anerkennung schenken, so scheint – dies fand ich auch in zahlreichen Gesprächen in den letzten Jahren heraus – bei ihnen in diesem Moment der immergleiche Film im Kopf abzulaufen: Wenn sie jetzt in unserer Situation wären, diese Situation zu meistern hätten, würden sie es dann genauso gut schaffen? Und viele gestehen sich mit dem Lob dann auch gleichzeitig ein: Nein, ich könnte es nicht.

Dass sie es durchaus könnten, bleibt unumstritten – sie könnten es, wenn sie es am Ende wirklich müssten. Es zählt jedoch im Augenblick der Situationsmomentaufnahme nicht, dass ein jeder, der beispielsweise einmal erblindet auch Hilfen und Trainings bekommen könnte, sondern alleinig das Jetzt und Hier: Wenn ich in diesem Augenblick blind wär und mit dem Wissen, das ich jetzt aktuell habe, diese Situation bewältigen müsste, würde ich es auch so gut schaffen?

Unsere dünne Haut

Bei all den Diskussionen über „positive Diskriminierung“ frage ich mich automatisch immer: Seit wann sind wir Menschen mit Behinderungen so dünnhäutig geworden? Warum fällt es uns so verdammt schwer, Anerkennung zu akzeptieren und nicht immer gleichzeitig nur das Schlechte in ihr zu sehen? Warum wollen wir par tout jegliches Lob von uns weisen und unterstellen dem Lobenden gleichzeitig, sie würden uns diskriminieren?

Es mag vielleicht an uns Menschen liegen, dass wir Stolz und Anerkennung generell als arrogant, eingebildet und somit nicht erstrebenswert erachten. Lieber nicht auffallen, sich nicht hervorheben (lassen), so sein wie die anderen. Für viele hat das Nichtanerkennen von Leistungen somit auch etwas von Gleichberechtigung. Aber selbst ein gutes Wort vom Chef im Job, eine lobende Bemerkung eines Kollegen unserer erbrachten Leistung wegen, ja selbst die vom Arbeitgeber ausgeschüttete Bonuszahlung könnte somit doch auch gleich als „positive Diskriminierung im Job“ angesehen werden. „Positiv“, weil Lob, mehr Geld etc. für viele nichts Negatives sind und „Diskriminierung“, weils genug andere gäbe, die keines dieser Lobe erhalten haben? Da muss man sich wirklich fragen, ist es wirklich das, was wir wollen?

Schaden wir uns durch solch Vorgehen am Ende nicht sogar nur selbst, uns und der von uns angestrebten Inklusion und Teilhabe? Wir wollen Austausch, wollen akzeptiert werden, wollen aber nicht, dass man unsere Leistungen (und sei es auch nur im privaten Rahmen eines Gesprächs) hervorhebt, also anerkennt? Irgendwo ist da ein Widerspruch! Zum Austausch gehört auch, gegenseitig Erfahrungen zu teilen. Im Freundeskreis fragt man sich schließlich auch gegenseitig, wie man dieses oder jenes macht, so man es selber nicht beherrscht. Da kräht kein Hahn nach „Diskriminierung“. Nur wir wollen wieder eine Behinderten-Extrawurst…und wollen sie am Ende ja auch irgendwo doch nicht. Also was denn nun?

Die Goldwaage einfach mal Zuhause lassen

Letzten Endes liegt es an uns, was wir aus „positiver Diskriminierung“ machen, inwieweit wir sie zu bekämpfen versuchen, wo sie am Ende überhaupt nicht stattfindet. Wenn wir es immer weiter zulassen, dass unser Fell dünner wird, weil wir jeden Satz auf die Goldwaage legen und sofort nach der Sprachpolizei rufen, wird nie etwas aus dem von vielen so herbeigesehnten Austausch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Weil Letztere dann nämlich zukünftig wieder einmal nicht mehr wissen, wie sie uns ansprechen oder was sie uns gegenüber noch sagen dürfen, ohne ins Diskriminierung-Durch-Anerkennungs-Fettnäpfchen zu tappen.

Diskriminierung ist nicht nur das, wie andere sie uns gegenüber anwenden, sondern vor allem, wie wir sie am Ende wahrnehmen. Jeder noch so kurze Satz könnte eine Diskriminierung beinhalten – vielleicht nicht auf dem ersten Blick, dafür jedoch zwischen den Zeilen. Ist es daher wirklich erstrebenswert, unser gesamtes Handeln zur Bekämpfung von Diskriminierung von Sprache abhängig zu machen? Sprache ist nur ein Werkzeug, eines von vielen. Wichtig ist doch am Ende das Handeln – auch wenn viele ja der Meinung sind, dass Sprache das Handeln mit beeinflusst.

Und sollte es doch jemand Leid sein, zum x-ten Male für eine Straßenüberquerung, ob nun mit Blindenstock, Hund oder im Rollstuhl, gelobt worden zu sein oder wenn man sich unsicher ist, ob das ausgesprochene Lob auch tatsächlich ernstgemeint ist, empfehle ich die folgenden zwei, goldenen Regeln, die ich jedem nur wärmstens ans Herz legen möchte: Erstens: Wenn ich mir unsicher bin, wie etwas gemeint war, frage ich nach und zweitens: Lob und Anerkennung lassen sich auch prima mit dem kleinen Sätzchen „Das ist für mich Alltag, ich kenn’s gar nicht anders) bei Seite räumen, ohne dabei laut „Diskriminierung!“ schreien zu müssen und vor allem seinem Gegenüber gehörig auf dem Schlips zu treten.


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

Eine Antwort auf „Gedanken-Gänge 47 – Von Lob und Anerkennung oder: Zwischen positiver Diskriminierung und unserer eigenen Dünnhäutigkeit“

Vielen Dank für den Perspektivwechsel zur positiven Diskriminierung! Ich persönlich würde sogar soweit gehen, dass ich meinen Alltag oft sogar wirklich als anstrengend und herausfordernd erlebe und es mir oft gewünscht hätte, dass diese Mehrfachbelastung nicht übersehen wird. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich mit mehreren Behinderungen lebe, die ich im Laufe meines Lebens erwarb.

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