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Blindsein heißt nicht, blind zu sein

Blindsein heißt nicht, blind zu sein – zugegeben, ein Titel, der anfangs ein wenig verwirren dürfte. Sollte es sich dabei um eine Anspielung auf den „Kleinen Prinzen“ und dem wohl bekanntesten Satz „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, handeln? Keineswegs!

Es geht um blinde Menschen, um das was sie tun, nicht tun, was andere denken, was sie tun sollen und dürfen und vor allem auch darum, was sie selber über andere blinde Menschen denken, was diese tun könnten oder sollten.

Denn ich musste in den letzten Jahren, vor allem, seit ich in Hamburg mein Medienstudium begonnen und dadurch bedingt sehr viel mit Sehenden zu tun habe, immer wieder feststellen, dass es, vor allem in Blindenkreisen, Dinge gibt, die schnell als ‚unmöglich‘ abgetan werden. Entweder aus eigener Erfahrung (durch Unterhaltungen und dem Austausch mit anderen Blinden), durch die Berichte anderer Blinder, deren Tun schnell kritisiert wurde oder jüngst durch einen diskutierten Werbespot.
Auch durch meine Arbeit beim „Dialog im Dunkeln“ hier in Hamburg wurde ich oft mit der Frage nach dem ‚typischen Blinden‘ konfrontiert. Gibt es ihn oder anders: gibt es das typische Verhalten blinder Menschen? Ich kann hierüber kein Urteil abgeben, dazu müsste man zudem blinde Menschen ausführlichst zu ihrem Leben, ihrem Alltag und ihren Ansichten befragen! Ich kann aber das wiedergeben, was mir zugetragen wurde und natürlich auch aus eigenen Erfahrungen sprechen. Dieser Text spiegelt vor allem persönliche Einstellungen und Gedanken wieder – es ist traurig, dass ich so etwas extra als Hinweis anführen muss, aber es gibt immer wieder Menschen, die man förmlich an die Hand nehmen und denen man sowas vorab erklären muss, sonst fühlen sie sich persönlich angegriffen und es hagelt Kritik.

Gibt es ihn, den ‚typischen Blinden‘? Gibt es im Gegenzug überhaupt den ‚typischen Sehenden‘?!

Die spontanste Antwort hierauf wäre, in beiden Fällen, „Nein“, denn jeder Mensch ist individuell, ob nun blind oder sehend. Und dennoch scheint es innerhalb der einzelnen ‚Bereiche‘ Dinge zu geben, die als ‚typisch‘ oder eher ‚untypisch‘ und somit z. T. als ‚unmöglich‘ abgestempelt werden.

Jeder wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass jeder sein Leben so leben sollte, wie er es für richtig hält. Das bedeutet, jeder sollte alle Möglichkeiten haben, seine Lebensziele und Träume auch zu verwirklichen. Nur scheint es immer wieder Menschen zu geben, die mit der Zielorientiertheit anderer so ihre Probleme haben – dies möchte ich versuchen, anhand einiger Beispiele zu verdeutlichen.

Wer mich persönlich kennt oder die Texte im Blog und auf meiner Homepage liest, der weiß über meine Hobbys, das Reisen und das DJing bescheid. Allein diese zwei Dinge, für den Sehenden keine große Erwähnung wert – denn er reist, wie und wohin es ihm passt -, bescherten mir in der Vergangenheit einige heftige Diskussionen mit anderen Blinden.

Ob nun der Besuch einer Disco, das Reisen ohne speziellen Reise-Guide für Blinde oder einer Reisegruppe, das Besuchen völlig fremder Umgebungen, das Durchfragen zu einem mir noch unbekannten Ort. Alles Dinge, die für viele (ebenfalls junge) blinde Menschen als unmöglich erscheinen. In der Disco ist es laut, in der fremden Stadt kennt man sich nicht aus… und vor allem, wie kann ich behaupten, allein gereist zu sein, wenn ich doch alle Nase lang um Hilfe bitten musste? So die kritischen Fragen.

Hier haben wir jedoch ein grundsätzliches Problem am Wickel: Hilfe in Annspruch zu nehmen bedeutet (aus meiner Sicht) nämlich keineswegs, völlig hilflos oder unselbstständig zu sein. Wer weiß, gezielt Hilfe einzufordern oder sonstwie ans Ziel zu gelangen, der weiß auch, sich in der Fremde zu behaupten. Ein zeitweiliger Begleiter, der einem nur zur U-Bahn oder zum nächsten Café geleitet ist nämlich noch kein Anzeichen dafür, dass man nicht ohne Begleitung reist. In der zweiten ‚Baustelle‘, der Disco, ist es laut und eng und man verliert schnell buchstäblich den Überblick. Doch wo Menschen sind, ist es nicht schwer, im ‚Bedarfsfall‘ Hilfe zu bekommen – so einfach ist das und auch wieder nicht. Denn ich glaube, dass dieser Prozess, sich wirklich die Dinge zuzutrauen, die jeder Mensch im gleichen Alter tut, sich im ‚Notfall‘ halt eben helfen zu lassen, auch erlernt werden muss; und in unserer heutigen Zeit auch unbedingt erlernt werden sollte! Nur ist man mit Kritik schnell dabei: Ich würde mich über andere blinde Menschen erheben wollen und könne nicht meine Behinderung akzeptieren und somit auch nicht einsehen, dass es nun einmal Dinge gibt, die man als Blinder so nicht tun kann. So und so ähnlich lauten die Einwände auf meine Freizeit-Aktionen, die (zumindest für mich) ganz alltäglich sind. Ich mache das, was mir passt, was mir in den Sinn kommt, worauf ich Lust hab und richte mich nicht nach dem Attribut „machbar“ oder „nicht machbar“. Aber erhebe ich mich somit über all diejenigen ebenfalls Blinden, die dies nicht tun?

Ein weiteres Beispiel: Ende 2010 machte ein blinder Mann in einem Forum von sich Reden (Beitrag wurde leider! Samt aller Kommentare vom Forenbetreiber kurz nach Veröffentlichung gelöscht), weil er, als Blinder, sich bei einer Produktionsfirma als Akteur für Pornovideos beworben hatte. Hut ab wegen dieses Outings, welches jedoch im Gegenzug Seitens einiger Mitleser – und vor allem Mitleserinnen – krasse Kritik auslöste. Nicht nur, dass Sexualität und sexuelle Entfaltung für viele Menschen immer noch ein Tabuthema zu sein scheint, von Pornos gar nicht zu sprechen. Dass zudem noch ein Blinder dieses Tabu bricht und sich an einem Pornodreh beteiligen wolle? Dies stieß bei vielen der Mitleser des Forums auf Unverständnis. Nicht nur das! Man konnte auch Aussagen darüber lesen, was ein Blinder tun sollte und was nicht. Viele äußerten die Angst, dass der arme Mitblinde ausgenutzt werden könnte; ein Argument, welches ich in dieser Form eher von Sehenden gewohnt war, aber dass selbst Blinde von Ausnutzen sprachen? Dies war und ist für mich mehr als unverständlich. Denn der ebenfalls blinde Mann wird gewusst haben, worauf er sich da einließ. Und Gesetz dem Falle, er wusste es nicht: Dies berechtigt noch niemandem, über ihn und sein Schaffen zu urteilen.

Drittes Beispiel ist eine Dessous-Werbung, welche im letzten Jahr in Österreich und z. T. auch hier in Deutschland für Furore sorgte. Eine blinde Frau (in realen Leben war es eine sehende Schauspielerin – spielt jedoch für die Diskussion keine Rolle) räkelte sich in sexy Dessous. Der Spot wurde als diskriminierend und frauenfeindlich abgestempelt. [eine kurze Zusammenfassung der Diskussion bietet der Artikel von Heiko Kunert: http://blindpr.com/2011/11/15/dessous-werbung-und-diskriminierung-haltlose-kritik/]

Diese Beispiele zeigen, dass es, auch in den eigenen Reihen, immer wieder Leute gibt, die besser zu wissen glauben, was wir leisten und ohne Bedenken tun können. Als gäbe es ein gewisses, gesellschaftliches Bild zu wahren, als gelte es, die vertrauten Stereotypen und Vorurteile der Sehenden nicht all zu sehr durcheinanderzubringen.

Dies wirft die Frage auf: Gibt es solche Phänomene in anderen Gruppen gehandicapter Menschen auch? Gibt es dies vielleicht auch unter Sehenden?

Meine Antwort: Mit Sicherheit! Nur fällt es einem (z. B. in der großen Gruppe der Sehenden) vielleicht kaum auf, weil absurde und abstruse Vorkommnisse, Aktivitäten und Aktionen nicht so überbewertet werden. Da der Blinde eben nicht sehen kann, sind Dinge wie alleine Reisen, die Dessous-Werbung mit einer blinden Figur und der Wunsch eines Blinden, auch mal einen Porno drehen zu wollen, scheinbar zu absurd und entgegen jeglicher Gepflogenheiten. Eine vergleichbare Erfahrung musste ich auch machen, als ich das Fernsehverhalten Blinder erforscht habe.
Denn nicht nur von Sehenden kam der Einspruch, Blinde würden kaum fernsehen – auch einige ebenfalls Blinde schlossen von ihrem Hörspielkonsum und ihrer Abneigung gegenüber dem Fernsehen auf andere; eine glatte Fehleinschätzung ihrerseits, wie ich feststellen durfte.

Ich beobachtete zu meiner Internats- und Schulzeit, dass es eine Art „Konkurrenzverhalten“ oder Resignation Seitens vieler blinder Menschen gegenüber Sehenden und den Aktivitäten, die sehende Menschen machen, gab. Irgendwie blieben viele im Kreise der „Gleichgesinnten“, blickten hinaus zu den Sehenden und den Dingen, die sie taten, ohne für sich selbst einmal auszuprobieren, ob sie nicht gleiches auch, außerhalb des „Blindenkreises“, leisten könnten. Aber dieses Verhalten scheint nur all zu verständlich. Gerade im Kindes- und Jugendalter ist man Mitläufer und tut das, was die Klassenkameraden tun – oder auch nicht tun. Und dies setzt sich sicherlich bei vielen über die Schulzeit hinaus weiter fort.


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

Eine Antwort auf „Blindsein heißt nicht, blind zu sein“

Hey Christian,

habe diesen Beitrag grade zufällig entdeckt und muss das einfach mal kommentieren, weil du mir total aus der Seele sprichst bzw. schreibst. Kenne die gleichen Vorurteile betreffend in Clubs gehen oder reisen – zwei Dinge die ich auch gern tue 😉
Dieses sich „helfen lassen“ erlernen ist oft gar nicht so einfach. Ich persönlich hab da auch kein Problem mit, wenn ich in ner Umgebung bin, wo ich mich nicht auskenne, frag ich jemanden – und die meisten Leute sind auch echt in Ordnung und helfen weiter. Das Problem dabei ist, dass einem Blinden in so mancher Einrichtung vermittelt wird, dass sich helfen lassen ein Zeichen von Unselbstständigkeit sei. Ich sehe das überhaupt nicht so, ganz im Gegenteil, denn Selbstständigkeit heißt auch sich zu organisieren und nicht den „Superblindi“ spielen zu müssen, der ja alles alleine kann – muss darüber sowieso immer lachen, es wird immer Situationen geben wo wir auf Hilfe angewiesen sind.
Naja wollte das einfach mal los werden 😉
LG

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