Tag 3 in Jekaterinburg
Mittwoch, 21.05.2014
Irgendwie hatte sich mein Körper noch nicht ganz auf die vier Stunden Zeitverschiebung eingestellt… Mehr schlecht als recht quälte ich mich um 08:30 Uhr (04:30 Uhr Deutsche Zeit) aus dem Bett, denn bereits anderthalb Stunden später sollte ich von Nastia (Kurzform von Anastasia) zu meiner privaten Sightseeing-Tour abgeholt werden. Ich hätte jetzt gut den Zimmerservice in Anspruch nehmen und mir mein Frühstück aufs Zimmer bringen lassen können, aber dann wäre ich sicherlich erst recht nicht aus dem Trott gekommen. Daher hieß es, flux anziehen und ab nach unten!
Kaum war ich mit dem Frühstück fertig, wurde ich auch schon erwartet. Bei 9 Grad und Nieselregen starteten wir den zweistündigen Stadtrundgang.
Zunächst ging es zur Statue des Jekaterinburger Dichter und Sängers Wladimir Vysotsky, welche bei unserer Ankunft gerade gesäubert wurde, was das Anfassen um einiges angenehmer machte.
Dieses Monument thronte mal nicht, wie ja sonst oft üblich, auf einem Sockel und war, allein schon durch die Größe der Figur unerreichbar, sie befand sich quasi auf Augenhöhe und war somit voll zugänglich. In seiner Hand hielt er eine Gitarre, neben ihm stand eine weitere Statue, die seine Frau darstellen sollte. Diese Figur war, wie noch einige andere auf unserem kleinen Stadtrundgang, detailliert ausgearbeitet. Selbst die Saiten der Gitarre, welche die Statue in ihren Händen hielt, war als solche zu ertasten und erkennen.
Weiter ging es zum Ufer des Iset-Flusses. Hier befand sich das Qwerty-Monument, ein 2005 errichtetes Kunstobjekt, welches eine Amerikanische Computertastatur darstellte. Auf den Betontasten, welche in den Boden eingelassen waren, waren auch die kyrillischen Schriftzeichen der einzelnen Tasten zu sehen. Selbst die unterschiedlichen Abstände und Erhöhungen waren einer „echten“ Computertastatur nachempfunden. Zu dieser Zeit war der Platz menschenleer, was wohl dem schlechten Wetter und der Tatsache, dass die meisten zur Zeit auf Arbeit oder in der Schule waren, verschuldet. Bei schönem Wetter wäre dieser Platz voller, erklärte mir Nastia. Dies konnte ich sehr gut nachvollziehen, denn kleine Grünanlagen, die zudem noch mitten im Stadtzentrum gelegen sind, ziehen auch in anderen Städten bei schönem Wetter die Besucher an.
Neben dem Qwerty-Monument, welches Umgangssprachlich auch einfach als „the Keyboard“ bezeichnet wurde, befand sich ein weiteres Monument. An einer Hauswand waren, als Relief, die vier Musiker der Beatles dargestellt.
Von hier aus ging es weiter zum Gefühlsbarometer, eine Säule, an der in Augenhöhe ein Barometer mit 9 Lämpchen angebracht war. Leuchteten die Lämpchen Grün, war die Laune der Bevölkerung gut, leuchteten sie Rot, eher schlecht. An diesem Morgen leuchteten 7 von 9 Lämpchen Grün. Ob und inwieweit das Barometer gesteuert würde, konnte mir Nastia nicht genau sagen. Sie vermutete, dass es irgendeine Verbindung zu sozialen Netzwerken wie Facebook gäbe, die herangezogen werden könnten…
Von hier aus beschlossen wir zunächst, den Stadtrundgang zu unterbrechen und uns bei einer Tasse Tee aufzuwärmen, denn der Regen wurde immer stärker.
Nach einer halbstündigen Pause ging es weiter in das Vysotsky Center, dem höchsten Gebäude Jekaterinburgs, welches im 52. Stockwerk über eine Aussichtsplattform verfügte, die man, nachdem man Eintritt bezahlte, über den Aufzug erreichen konnte.
In geschätzt 250 M Höhe pfiff uns der Wind um die Ohren. Jedoch war die Aussicht wohl enorm. Von hieraus hatte man einen guten Überblick über die Stadt und konnte, neben den bereits besuchten Sehenswürdigkeiten, noch weitere interessante Plätze sehen. Zu diesen zählten auch der Platz von 1905, die Universität mit der Gorky-Statue davor und die „Church on Blood“, welche dort erbaut wurde, wo einst die Russische Königsfamilie ermordet wurde und die von diesem Ereignis auch ihren Namen trägt.
Einige Minuten, Fotos und Videos später, fuhren wir wieder mit dem Lift nach unten. Ein Blick auf die Uhr verriet uns, dass wir uns langsam auf dem Weg zu Olegs Büro machen sollten, denn um 13:30 Uhr würden wir weiter zur Blinden- und Sehbehindertenschule fahren.
Auf dem Weg dorthin liefen wir ein kurzes Stück durch die Fußgängerzone, vorbei an weiteren, (wie ich fand) interessanten und gut ausgearbeiteten Statuen. Darunter ein Mann auf einem alten Fahrrad oder ein anderer Mann in einem alten Auto – letzteres war vor allem auch für Kinder ein begehrter Anlaufpunkt, konnte man doch prima mit ins Auto klettern und sich dann von Mama fotografieren lassen.
Nastia lieferte mich bei Oleg und Elena ab. Ich bedankte mich bei ihr für die sehr informative Führung und nach einer Tasse Tee und einem kleinen Snack fuhren wir los, zu einer von zwei Blindenschulen in der Region, welche sich in einer kleineren Stadt ca. 30 KM außerhalb Jekaterinburgs befand.
Wir wurden bereits gegen 15:00 Uhr erwartet. Jedoch wussten viele Schüler nichts von ihrem Glück und waren daher auch leicht über den Besuch überrascht. Es waren 20 Schüler und Exschüler sowie zwei Lehrer anwesend. Oleg und einer der Ehemaligen, Sergej, waren in den 90 Minuten meine Dolmetscher.
Ich wollte jedoch nicht Lehrer-like einen Vortrag halten und 90 Minuten lang nur reden. Ich stellte mich kurz vor, erzählte, was ich so mache und überließ es den Schülern Fragen zu stellen… Und dies geschah auch sehr reichlich.
Wie kam ich dazu, als DJ zu arbeiten? Was würde ich am nächsten Tag auf dem „Inclusive Game“ spielen? Wie lebt es sich als Blinder in Deutschland? Welche Unterstützungen gibt es Seitens des Staates bei uns? Wie ist das Schulsystem und wie war es an den Blindenschulen, die ich besuchte? Was ist „Dialog im Dunkeln“? Wie reist es sich allein als Blinder?
Ich kam gar nicht dazu, groß Fragen zu stellen, außer, ob sie mir, als nicht Sprachkundigen, empfehlen würden, mich in der Stadt allein zu bewegen? Einige rieten mir eher ab, andere meinten, ich solle es ruhig versuchen, Sergej schlug vor, mir Zettel mit meinen Zielen schreiben zu lassen. Ich wollte zudem wissen, wo ich am besten – ja, Ihr werdet’s ahnen – CD’s in Jekaterinburg kaufen könne. Eine Frage, die für großes Erstaunen sorgte. In Russland läd man sich Musik herunter. Ich meine hier nicht Kaufdownloads à la Itunes, sondern zum Teil illegale Downloadseiten, von denen viele ihre Musik beziehen. Die Polizei weiß davon, es wird aber größtenteils mit zwei zugedrückten Augen hingenommen. Ob dies in Deutschland nicht so sei? Ich erzählte ihnen, welche Probleme einem erwarten können, wenn man beim Up- bzw. Download erwischt wird – wieder große Verwunderung.
Die anwesenden Lehrer waren zu Beginn der Veranstaltung höchst skeptisch über Olegs und mein Vorhaben gewesen, ärgerten sich am Ende jedoch ungemein, dies nicht besser organisiert zu haben. Die Schuldirektorin, die zum Schluss dazugestoßen war, betonte, wie wichtig so ein Austausch, für die Schüler, deren Eltern und auch fürs Lehrerkolleg sei und dass man dies beim nächsten mal unbedingt besser vorbereiten müsse.
Mir kam zum Schluss noch eine Idee: Um mehr über die Blindenschule zu erfahren, fragte ich die Schüler, ob nicht jemand Lust hätte, mir ein kurzes Interview zu geben, welches ich auf Video aufzeichnen und auf YouTube hochladen wollte. Sergej erklärte sich sofort bereit und auch die anwesenden Lehrer waren von dieser Idee sehr angetan.
Und so erzählte mir Sergej vor dem Schulportal, dass es eine Blinden- und Sehbehindertenschule mit angeschlossenem Internat sei, auf der im Schnitt 250 Schüler beschult würden, von denen wiederum ca. 50% auch im Internat lebten. Der Rest kam aus der Umgebung. Die Schüler lebten in Gruppen zu 16 Personen und auch die Klassengröße war ähnlich groß. In der Freizeit würden ihnen ausreichend Freizeitangebote zur Verfügung stehenund gegen eine schriftliche Erlaubnis der Eltern war es den Schülern auch möglich, das Schulgelände ohne Begleitung zu verlassen und sich frei in der Stadt zu bewegen oder auch nach Jekaterinburg zu fahren.
Am Ende dieses sehr interessanten und gelungenen Ausfluges lüftete Oleg noch das letzte „Geheimnis“ des morgigen Tages: Ich bekäme die Möglichkeit, in einem im Stadtzentrum gelegenen Club ein zweistündiges DJ Set zu präsentieren. Wow! … Mehr konnte ich dazu einfach nicht sagen!
Von der Schule aus fuhren wir zurück in die Stadt. Der Weg dauerte, Dank Rushhour, gute zwei Stunden und so erreichten wir gegen 20:00 Uhr das Chinesische Restaurant. Es gab Hähnchen süßsauer, dazu Reis und gebratenes, mariniertes Gemüse. Im Hintergrund lief Russische Popmusik und ich bat Oleg, die Kellnerin nach dem Namen der CD bzw. des Interpreten zu fragen. Sie erwiderte, dass sie das nicht so genau sagen könne, da es sich um eine gebrannte CD handelte. Was ich nicht wusste war, dass Oleg daraufhin mit der Bedienung in Verhandlung trat, um diese CD für mich zu bekommen. Gegen einen kleinen Aufpreis gab es also am Ende nicht nur hervorragendes, Chinesisches Essen, sondern auch eine erste CD mit Russischer Popmusik.
Und so endete der Tag für mich sehr erfolgreich. Eine tolle Stadtführung, interessante Fragen von Schülern, ein nettes Videointerview, gutes Essen und eine CD und die Möglichkeit, in einem Russischen Club auflegen zu dürfen – was will man mehr?!