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Fünf Tage Jekaterinburg – Ein Reisebericht

Tag 4: Welcome to the Club

Donnerstag, 22.05.2014

Dank eines nächtlichen Gewitters und der Tatsache, dass sich das Fenster im Zimmer nicht wirklich weit öffnen ließ, um mal frische Luft hinein zu lassen, war die Nacht eher schlaflos verlaufen. Ein wenig groggy stand ich um 9:00 Uhr auf. Viele von Euch wären noch bis zum Beginn der Veranstaltung liegen geblieben, anstatt in die Fußgängerzone zu laufen, um Souvenirs zu besorgen. Aber dies war kein Erholungs- und „Ich schlaf mich mal aus“ -Urlaub, von daher hieß es AUFSTEHEN!

Beim Frühstück erlebte ich eine Überraschung: Jemand sprach mich mit Namen und zudem noch auf Deutsch an. Ich glaube, ich habe recht blöd aus der Wäsche geguckt – aber wer hätte das nicht?

Tatjana, Lehrerin an einer Blindenschule in Moskau, Rollstuhlfahrerin und ebenfalls Teilnehmerin am „Inclusive Game“, war am Vortag aus Moskau angereist. Da ihre Verwandten in Deutschland lebten, sprach sie verhältnismäßig gut Deutsch.

Während des nun gemeinsamen Frühstücks unterhielten wir uns und sie bot mir an, mich in die Stadt zu begleiten, um zu übersetzen. Und so verzichtete ich auf das Abenteuer, mich allein auf dem Weg in die Fußgängerzone zu machen, zu Gunsten der Verständigung. Jedoch sollte der Weg dennoch für mich ein Abenteuer werden.

Bei meiner Tätigkeit im „Dialog im Dunkeln“ hatte ich schon häufiger Rollstuhlfahrer durch die Ausstellungsräume fahren müssen. Dieses Fahren in sicheren Räumen ist jedoch was ganz anderes, als einen Rollstuhl draußen, auf der Straße, zu manövrieren. Um schneller voran zu kommen und damit ich ihr nicht davonlaufe, schob ich den Rollstuhl ein wenig an, während Tatjana ihn mit den Händen vorwärts bewegte, denn sie besaß keinen Elektro-Rollstuhl. Und so merkte ich erst, wie viele Unebenheiten es auf den Bürgersteigen gab, wie wenig abgesenkte Bordsteine an Straßenüberquerungen vorhanden waren und was für Hürden ein Rollifahrer überwinden muss. Über solche Dinge denkt man zwar in der Theorie viel nach, sie aber in der Praxis live zu erleben, war noch einmal eine ganz andere Sache!

Wieder einmal positiv überrascht hatte mich die Hilfsbereitschaft der Passanten. Bei sehr hohen Bürgersteigen und Stufen bat Tatjana zusätzlich vorbeilaufende Passanten um Hilfe. Sie hatte damit jedes mal sogleich beim ersten Passanten Erfolg, nur einmal ging jemand wortlos vorbei.

Zwar brauchten wir so länger, als wenn ich allein in die Innenstadt gelaufen wäre, dennoch war es für mich eine sehr wichtige Erfahrung gewesen.

In der Fußgängerzone angelangt, besuchten wir die Uspensky-Mall, ein kleines Shoppingcenter, in dem sich, laut der Empfehlungen der Schüler, ein CD-Shop (oder, wie die Russen sagen: Magazin) befinden sollte. Auf dem Weg dorthin machten wir noch bei einem Souvenir-Shop halt, jedoch führten sie nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Typisch für ein Mitbringsel aus Jekaterinburg waren Steine oder Steinskulpturen aus dem Ural-Gebirge.

Jedoch im CD-Magazin hatte ich Erfolg! Tatjana konnte aufgrund einer Treppe zunächst nicht mit in den Laden hinein, doch waren mir ein anderer, Englisch sprechender Kunde und der Verkäufer bei der Auswahl behilflich. Der Kunde verschwand zwischendrin einfach, jedoch rief der Verkäufer, wenn er mich bzw. ich ihn nicht verstand, so lange durch den Laden, bis ihm irgendjemand die Englischen oder Deutschen Wörter zurief. Und funktionierte das nicht, gab es ja immer noch Zeichensprache: Drei Finger, gefolgt von zwei mal die Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger zu einem O bzw. einer Null aufeinandergelegt ergab?… 300!

300 Rubel für eine CD? Wie ich ja bereits am Vortag erfuhr, laden sich die meisten Leute in Russland die Musik einfach herunter. Wo in Westeuropa die Industrie versucht, die Einbußen durch hohe CD-Preise wieder wett zu machen, werden in Russland die Silberlinge einfach verschleudert. Und so bekam ich für den Preis einer CD in Deutschland hier gleich drei Scheiben. Dieser Einkauf hatte sich somit definitiv für mich gelohnt!

Vom CD-Shop aus ging es auf direktem Wege, nämlich mit Elenas Auto, zum Jugendpalast. Die Pressekonferenz war bereits in vollem Gange und die letzten Vorbereitungen mussten getroffen werden.

Ich sollte um 15:30 Uhr loslegen bzw. auflegen, während Tatjana zuvor im Hauptsaal kleine Spiele und Aufgaben mit kleinen Gruppen durchführte. Des weiteren konnten die Besucher noch folgende Stationen besuchen:
Bei einer professionellen, blinden Köchin konnte man unter Anleitung, unter einer Augenklappe, Sandwiches belegen. Hierfür mussten zuvor jedoch, natürlich, Brot, Wurst, Gemüse etc. geschnitten werden! In einer Blackbox gab es verschiedene Dinge zu ertasten. Ob nun ein aufblasbares Plantschbecken mit Bällen oder verschiedene Gewürze und Körner. Hier konnte selbst ich nicht alles erraten. Weitere Infostände und Aktionen z. B. von der Jekaterinburger Universität, lieferten Informationen zu verschiedenen Studiengängen.

In der Zeit bis zu meinem Auftritt wurden mir alle Beteiligten vorgestellt, darunter auch ein Russischer Kunstprofessor, der – trotz dass er vor drei Jahren erblindet war – weiterhin fleißig Kunstseminare an der Universität hielt.

Zwischendurch bekam ich Besuch vom Fernsehen. Die Lokalabteilung des 2. Russischen Fernsehens führte ein kurzes Interview und wollte wissen, was mich nach Jekaterinburg trieb und wie es zur Teilnahme am „Inclusive Game“ kam.

Die Zeit bis 15:30 Uhr verging wie im Fluge. Um 15:20 Uhr wurden die Türen geöffnet, so dass die Gäste nach draußen gelangen konnten, wo parallel zu meinem Auftritt eine Kundgebung stattfand. Bedingt durch die sehr warmen Temperaturen (28 Grad) und der Tatsache, dass auf dem großen Platz vor dem Jugendpalast nichts war, was hätte ein wenig Schatten spenden können, war die Veranstaltung am Ende schneller vorbei, als ursprünglich erhofft bzw. gedacht. Es war einfach zu warm zum Tanzen. Dennoch konnte ich mit meinem Set die anwesenden Besucher begeistern.

Nach der Veranstaltung ging es sogleich für uns, Elena, Oleg und mich, weiter. Wir hatten einen Termin mit Marina, Geschäftsführerin der Russischen Niederlassung einer Deutschen Chemiefirma, welche u. a. meine Reise gesponsert hatte. Marina sprach daher ebenfalls gut Deutsch und händigte mir während unseres kurzen Besuchs ein Buch über den Ural als kleines Geschenk und Mitbringsel aus Jekaterinburg aus.

Nach diesem kurzen Termin ging es weiter in Olegs und Elenas Büro. Ich musste für mein geplantes DJ-Set im Linch Club in der Jekaterinburger City einige Lieder raus suchen und auf CD brennen. Wie ich inzwischen nämlich erfahren hatte, war dort eher ruhigere, langsamere Musik angesagt und nicht der Kommerz-House, den ich am Nachmittag gespielt hatte. Zwischendrin wurde ich noch per Skype von einem Russischen Internetradio des Blindenvereines ausführlich interviewt. Zudem gab es noch eine Kleinigkeit zu Essen: Pelmini, die Russische Variante der allseits bekannten Tortellini. Schon die letzten Tage hatten Oleg und seine Frau überlegt, wo sie für mich sehr gute Pelmini herbekommen könnten?

Um 19:45 Uhr ertönte eine Ansage über die Lautsprecher im ganzen Gebäude, dass in 15 Minuten der Strom abgestellt würde.

Also hieß es Zelte abbrechen, schnell einpacken und zusehen, dass wir noch vor Abschalten des Stromes mit dem Aufzug nach unten kämen. CD’s konnten wir daher nicht mehr brennen, dies übernahm ein Freund Olegs für uns, den wir einen USB-Stick übergaben. Nur leider ging hier irgendetwas schief, weshalb die CD’s teilweise leer, teils nicht komplett bespielt waren.

Dies führte dazu, dass ich für meinen DJ-Auftritt im Club etwas umdisponieren musste und doch auf die Songs des Nachmittags zurückgriff. Und dies war eine sehr gute Entscheidung. Die anwesenden Gäste waren in Feierlaune.

Wie ich erfuhr, hatte der Club auf seiner Facebook-Seite eine Ankündigung mit Foto von mir veröffentlicht. Auf dem Weg vom Auto zum Club wurden wir auch bereits, als wir nach dem richtigen Weg fragten, , angesprochen, ob einer von uns Stockträgern der DJ sei?

Das zweistündige Set war ein voller Erfolg. Wo man sonst eher ruhigere Klänge spielte, da man sich hier nach Feierabend eher auf ein nettes Gespräch und ein paar Wodka traf, wurde dieses mal getanzt und gefeiert.

Und so vergingen auch diese zwei Stunden für mich wie im Fluge und waren ein mehr als gelungener Abschluss meines Russland-Besuchs.

Da es noch angenehm warm draußen war, gingen wir gemeinsam, d. h. Oleg und seine Frau, Elena, Nastia, Tatjana und ich, zu Fuß zurück zum Hotel. Unterwegs überholte uns ein Auto-Korso mit aus dem Fenster hängenden, Russischen Flaggen. Scheinbar hatte irgendeine Sportmannschaft ein wichtiges Spiel gewonnen.

Am Hotel angekommen verabschiedeten wir uns und mir wurde von Oleg eine schwere Tüte überreicht. Sie enthielt das Buch, welches mir von Marina mitgegeben wurde, Olegs Buch über die White Cane NGO sowie einige kleinere Steinfiguren aus dem Ural. Es fiel mir offen gestanden schwer, diese Geschenke einfach so anzunehmen, hatte der Verein in den letzten vier Tagen doch alles, ob nun Essen, Getränke oder Busfahrkarte, ebenfalls übernommen gehabt.

Und so stellte ich die aus ihrer Sicht unnötige Frage, was sie für die Souvenirs von mir bekämen? Nichts! War die Antwort. Sie hätten mir schließlich zu danken, für meine Teilnahme, meinen Besuch, die Gespräche, den Vortrag an der Blindenschule und die tolle Zeit. Und wenn eines der Dinge, die man sich über Russland erzählt, stimmte, dann war es die Herzlichkeit und Gastfreundschaft, die man auf keinen Fall zurückweisen sollte.

Und so fiel auch die Verabschiedung sehr herzlich aus und man versprach mir, die geschossenen Fotos und gedrehten Videos schnellstmöglich zuzusenden und auch weiterhin in Kontakt zu bleiben.

Zurück auf meinem Zimmer hieß es sodann, Koffer zu packen. Denn schon in 4,5 Stunden würden Elena und Oleg mich abholen und zum Flughafen fahren – es war nämlich nach unserer Rückkehr ins Hotel bereits Einse durch…


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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