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Gedanken-Gänge 42 – Manchmal war früher eben doch vieles besser… oder: Eine kleine Hommage an die neunziger Jahre

In zahlreichen Beiträgen in sozialen Netzwerken, ja sogar in ganzen Gruppen, wird der Nostalgie freien Lauf gelassen. Für viele Menschen waren die neunziger Jahre mit das beste und tollste Jahrzehnt, die schönste Zeit – wobei das sicherlich viele von den Jahren der eigenen Kindheit behaupten werden. Ja selbst in unzähligen Retrospektiven im TV und in Live-Comedy-Shows wird seit geraumer Zeit den Neunzigern gedacht und die Musik dieses Jahrzehnts erlebt spürbar ihr Comeback, ob nun im Radio oder auf Partys. Gründe genug, auch hier mit einer kleinen Hommage an die eigene Kindheit zu starten. Mal ohne all die Probleme, die es damals schon gab oder die Dinge schlecht zu reden, die wir „damals“ noch nicht hatten. Und ich verzichte hier bewusst auf Bilder und Videos, die meine Erinnerungen durchaus illustrieren würden und überlasse Euch ganz und gar Eurer Fantasie.

Täuscht es, oder waren wir in unserer Kindheit mehr draußen? Haben draußen gespielt, mit Straßenkreide gemalt, waren auf Spiel- oder Bolzplatz und das oftmals auch ohne den elterlichen Helikopter, der schützend über uns wachte. Heute könne man das ja nicht mehr, hört man viele sagen. Bloß warum nicht? Weil Handy & co wichtiger geworden sind? Weil man draußen nicht mehr spielen kann? Weil vielen heute einfach die Fantasie fehlt? Oder ganz einfach, weil etwas passieren könnte? Doch böse Menschen, vor denen man als junges Kind schon recht früh gewarnt wurde („Geh nicht mit fremden Leuten mit!“), hat es auch in den Neunzigern gegeben.

Und auch wenn gefühlt in den Neunzigern generell mehr gespielt wurde, ob nun draußen oder drinnen, erlebten Spielekonsolen ihren ganz großen Erfolg. Ob Super Mario, Sonic oder Donkey Kong, viele Spiele und ihre Geschichten zogen uns magisch in ihren Bann und bescherten uns lange Spielenachmittage. Die piepsenden Sounds eines GameBoys, der im Vergleich zu heute spartanisch anmutende Sound einer Sega- oder Super Nintendo Konsole besitzt für viele auch heute noch absoluten Kultstatus. Und wer das Glück hatte, einen PC besitzen zu dürfen, für den waren vielleicht Commander Keen oder Duke Nukem die virtuellen Helden der Kindheit.

Wer kennt sie nicht noch, diese kleinen, piepsenden eiförmigen, elektronischen Haustiere, auch Tamagotchi genannt. Es gab einige Elternteile oder Geschwister, die wutentbrannt diese Möchtegernhaustiere aus dem Fenster befördert haben. Anderes Spielzeug, neben dem aus dem Fernsehen bekannten Merchandising-Produkten und -Figuren, waren auch JoJos, Flummies oder Slimies – diese glibschigen Kugeln, mit denenen man bei manchen Leuten schon richtigen Ekel hervorrufen konnte.

Auch das Fernsehen stand hoch im Kurs. Gerade durch das sich weiter im Aufbau befundene Privatfernsehen, wuchs die Programm- und Angebotsvielfalt enorm. Ob Kindersendungen und -Serien wie Turtles, Power Rangers, Biker Mice from Mars, Disney’s große Pause, der Li-La-Launebär, die Hanna Barbera Party, die Kinder vom Süderhof, Sailor Moon und Mila Superstar, die zahlreichen Spielshows wie der Preis ist heiß, Familienduell, geh aufs Ganze, 100000 DM Show, Traumhochzeit, legendäre Serien wie Notruf California, Emergency Room, Fresh Prince from Bel Air, Friends, hinter Gittern oder Daily Soaps wie unter uns, GZSZ oder Marienhof. Die Neunziger waren auch die Geburtsstunde eines der in den 2000er Jahren wohl am meisten kritisiertesten Genres überhaupt – der Docu-Soap bzw. Reality TV. Allen voran stand wohl die auf RTLplus (später RTL) ausgestrahlte Sendung „Notruf“, in der wahre (Un)Fälle und Begebenheiten, teils mit Laiendarstellern, nachgestellt wurden. Die Neunziger waren zudem auch die Geburtsstunde des Daily Talks, ob „Vera am Mittag“, „Hans Meiser“ und wie sie alle hießen, viele versuchten, den Dingen auf den Grund zu gehen und bescherten uns teils tränenrührende Geschichten zur Mittagszeit. Da mag man sich angesichts von Scripted Reality fragen, was denn nun schlimmer war bzw. ist: Fremdgehende Laiendarsteller im Hartz-IV-TV oder Talkshows mit zum Teil auch fragwürdigen Gästen und Themen?

Wenn wir über die Glotze reden, dann natürlich auch über Werbung. Heute zum absoluten Nervfaktor verkommen, bei dem man das Zimmer verlässt oder durch Streaming gar nicht mehr in die „Bedrängnis“ kommt, sie sich überhaupt anschauen zu müssen, scheint Fernsehwerbung aus den Neunzigern inzwischen ebenfalls einen gewissen Kultstatus zu besitzen. Ob nun gesungene Slogans und Produktnamen („Thomy, hier kommt der Genuss“, „Außen Toppits, innen Geschmack“, „Schneekoppe“ oder andere, im Kopf bleibende Sprüche („Wir sind mit dabei, in jedem 7. Ei“, „… bin ich schon drin?“, „Katzen würden Whiskas kaufen“), es hat den Anschein, als wäre frühere Fernsehwerbung ansprechender gestaltet worden. Wo heute häufig auf viel Klamauk und lustige Stories gesetzt wird, reichten früher einfachere Mittel und/oder Melodien, um ein Produkt im Gedächtnis zu behalten – oder mag dieser Eindruck vielleicht täuschen?

Heute schier undenkbar, damals Realität war auch die Werbung für Zigaretten. Ob nun im Fernsehen oder auf Plakaten, Rauchen war in den Neunzigern bei weitem noch nicht so verpönt, wie es heute der Fall ist. 5 DM, also ’nen Heiamann zahlte man für eine Schachtel, ganz einfach und unkompliziert, am Automaten, ohne Ausweis- oder EC-Karten-Kontrolle.

Auch filmtechnisch hatte dieses Jahrzehnt eine Menge zu bieten, sodass man einen ganzen Artikel mit „den besten Filmen“ füllen könnte – lassen ich an dieser Stelle jedoch aus. Für mich zu den Highlights aus Kindertagen zählen jedoch auf jeden Fall: Die Schöne und das Biest, Mulan, der König der Löwen, Arrielle, Toy Story 2. Rückblickend, nachdem ich als Erwachsener noch viele weitere Filme der Neunziger kennengelernt habe, ließe sich diese Liste noch um viele Titel mehr erweitern…

Nicht zu vergessen die gute alte VHS (Videokassette), auf der teilweise bis zu 4 Stunden Film Platz hatte, im Longplay-Modus sogar noch mehr. Am Wochenende ist man dann in die Videotheken gerannt, um sich filmetechnisch einzudecken. Wer die Möglichkeiten hatte, kopierte sich schon damals seine Lieblingsfilme und schaffte sich so seine ganz eigene, private Filmsammlung – Ihr seht, das Kopieren von Filmen war nicht erst ein (Un)Ding der Zweitausender gewesen.

Apropos Kassette – auch die Audiokassette war wohl in den Neunzigern am Höhepunkt ihres Daseins angelangt. Versuche, sie durch die Minidisk zu ersetzen, scheiterten kläglich und so blieb das Tape Aufnahmemedium Nr. 1, wenn es darum ging, seine Lieblingsmusik aus dem Radio aufzunehmen oder sich für die nächste lange Autofahrt einen eigenen Sampler zusammenzustellen – zum Thema Musik unten noch mehr! Hörspiele auf CD? Bis in die späten Neunziger auch eher eine Seltenheit. Ob TKKG, Fünf Freunde oder die drei ???, wenn, dann hatte man sie natürlich auf Kassette – Bandsalat inbegriffen.

Kaum zu glauben, aber auch ohne Handy und Smartphone ging der Tag damals rum. Aus heutiger Sicht schier undenkbar. Ein Handy zu haben galt zunächst noch als Previleg, bevor gen Ende der Neunziger dann fast ein jeder mit seinem Nokia 5110 um die Ecke kam. Niemand hätte wohl gedacht, dass dieses kleine Ding 20 Jahre später zum alltäglichen Begleiter werden würde. OK zugegeben, größentechnisch haben wir ja eher einen Rückschritt gemacht, denn viele der damaligen Handymodelle konnte man wirklich problemlos auch in kleineren Hosentaschen unterbringen. Telefonieren konnte generell zur teuren Angelegenheit werden! Denn an Flatrates, so wie wir sie heute kennen, war gar nicht zu denken. Hier galt es abzuwägen, ob das Stundengespräch nicht auch in die späten Abendstunden, zum Mondscheintarif, gelegt werden konnte. Nummern musste man sich sogar noch merken, wenn man kein Adress- oder Nummernverzeichnis führen wollte. Ansonsten gab es ja auch noch das gute alte Telefonbuch oder, wenn keines zur Hand war, die Auskunft der Telekom („Deutsche Telekom, willkommen bei der Auskunft…. Platz 87“). Fragt man heute Leute, ob sie die Nummern ihrer Familie, ihres Partners, ja selbst ihre eigene Nummer auswendig können, wird oftmals nur müde mit dem Kopf geschüttelt und argumentiert, warum sie sich diese denn merken sollten, sie hätten ja ihr Smartphone!

An Internet war in den neunziger Jahren auch eher weniger zu denken. Das quäken und Piepsen eines 28K- oder 56K-Modems werden viele von uns immer noch im Ohr haben, genauso wie den Ausruf „Geh aus dem Internet raus, ich muss telefonieren!“. Dass das Internet einmal solch einen Stellenwert besitzen und unser Leben derart dominieren würde, hätten sich Mitte der Neunziger wohl die wenigsten träumen lassen. Auch, dass Computer nach dem Einschalten einmal so schnell einsatzbereit sein werden, dass es nicht mal mehr für ’nen Klogang oder ’ne Tasse Kaffee reicht, war zu der Zeit undenkbar.

Manchmal habe ich das Gefühl, wir haben in den Neunzigern auch mehr miteinander gesprochen – an der Bushaltestelle, im Restaurant, in der Bahn. Ich würde die Schuld nicht allein nur heute dem Smartphone geben, denn Ablenkungsmöglichkeiten wie Disk- oder Walkman oder eben ein herkömmliches Buch, gab es damals auch. Doch schien die Ablenkung hierdurch nicht ganz so groß zu sein, wie es heute beim Smartphone der Fall ist. Waren wir vielleicht deswegen allein schon offener unserer Umwelt gegenüber, weil wir eben nicht mal eben schnell auf Knopfdruck irgendwohin abtauchen konnten und sei es nur in irgendeine WhatsApp-Nachricht? Die Hemmschwelle, Menschen anzusprechen, schien geringer – so zumindest mein persönlicher Eindruck.

Großes Thema, wenn es um Retrospektiven geht, war und ist natürlich die Musik. Für viele ein Graus, für andere – auch mich -, die in den Neunzigern ihre musikalische Sozialisierung und Identitätsfindung durchlebten, war die Musik der „damaligen“ Zeit unschlagbar. Techno oder allgemein elektronische Musik befand sich unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Wo sich bei anderen die Fußnägel kräuselten, feierten wir die teils doch recht eingängigen Songs von DJ Bobo, Masterboy, Mr. President, Real McCoy, Marusha, Scooter, Pharao, Magic Affair und vielen vielen mehr. Aber auch „richtige“ Bands feierten in den Neunzigern ihre Riesenerfolge, so z. B. natürlich allen voran die Kelly Family, die ja auch seit zwei/drei Jahren ihr großes Revival erleben.

Wir scheinen überhaupt Musik noch ganz anders wahrgenommen zu haben, als es teilweise heute der Fall ist. Ob man nun dem Streaming die komplette Schuld daran zuweisen will, sei mal dahingestellt. Da man sich jedoch in Zeiten von CDs noch bewusst aussuchen konnte (ich sage mit Absicht nicht MUSSTE), musste man sich auch intensiver mit Musik auseinandersetzen. Sie war also nicht zum On-Demand-Konsummittel verkommen, was es heute streckenweise ja ist. Gezieltes Hören, auch von ganzen Alben, scheint ja heute eher verpönt.

Radio hören machte auch noch mehr Spaß als teilweise heute, wo man überall mit Jingles, tollen Vielfaltversprechen und Gewinnspielen zugedröhnt wird. Klar gab es in einer Zeit, in der die Formatierung sämtlicher Radiosendugen total im Trend waren, auch derartige Verpackungselemente und Slogans, die Vielfalt war aber teilweise eher gegeben als heute, wo bei den einzelnen Sendern die Angst vorm Abschalten viel zu groß ist, als dass man sich noch traut, Experimente einzugehen. Allein der öffentlich-rechtliche Rundfunk scheint sich seit ein paar Jahren wieder zurück zu besinnen und bewegt sich streckenweise musikalisch doch wieder etwas Abseits des Radiomainstreams.

Heute sind wir es gewohnt, von Montag bis Samstag teils bis in die späteren Abendstunden hinein noch einkaufen zu gehen, ja beklagen uns sogar, wenn mancher Orts am Sonntag die Läden geschlossen haben. Was hätten die heutigen Meckerer nur in den Neunzigern getan, wo eine Ladenschließung um z. B. 18:30 Uhr durchaus an der Tagesordnung war? Von den frühen Ladenschließungen am Samstag ganz zu schweigen! Wer erinnert sich nicht auch an den „langen Donnerstag“, bis 20:30 oder 21:00 Uhr hatten die Läden hier geöffnet – als Kind schon ein kleines Highlight, wenn man mal „so spät“ noch mit in die Stadt durfte. Generell war Shoppen früher ein ganz anderes Erlebnis. Zwar gab es auch schon Kaufhäuser, wie wir sie heute kennen, diese riesigen Protzmalls, wie sie in vielen Großstädten zu finden sind, waren seiner Zeit eher seltener – wenn überhaupt – zu finden. Es war Gang und Gäbe durchaus auch kleinere Spezialläden und -Händler aufzusuchen, anstatt das allumfassende Shoppingcenter unserer Neuzeit. Und wer etwas 2nd Hand suchte, ging damals natürlich nicht ins Internet, auf Schpock, eBay & co., sondern suchte am Samstag oder Sonntag vielleicht den nächsten Flohmarkt auf. Gefühlt war die Flohmarktkultur in den neunziger Jahren eine viel größere als man sie heute noch vorfinden kann. Schuld daran ist einerseits sicherlich das Internet, aber andererseits auch unsere Bequemlichkeit – wer steht schon noch gern morgens früh auf und stellt sich mit Sack und Pack auf nem Flohmarkt? Leider immer weniger, im Internet verkauft sichs ja einfacher und bequemer.

Apropos Klamotten – Schrille Farben, Glitzerschuhe etc. waren in den neunziger Jahren total im Trend. Und wer heute sich in den Klamotten- und Schuhläden umschaut wird feststellen, dass dieser Kleidungstrend wieder Einzug in die hiesigen Kleider- und Schuhschränke erhält – manche Dinge kommen halt immer wieder.

Im Zeitalter des Gesundheitswahns – oder positiv gesagt der nachhaltigeren, gesünderen Ernährung – mag man eigentlich gar nicht übers Essen reden. Heute muss alles peinlich kleinlich gereinigt werden, bevor es nur annähernd den Mund passieren darf. Außerdem sind Inhaltsstoffe wichtiger als der Endgeschmack – hätten wir früher gefragt, was alles enthalten sei, hätten wir womöglich keine passende Antwort bekommen. Vom Zuckerkonsum dieser Zeit mal ganz zu schweigen. Aber hat es uns umgebracht? NEIN! Als Twix noch Rider hieß, es noch Centershocks, Kaugummi aus der Tube oder zum Abrollen und andere süße, aber leckere Sünden gab, fragten nur die wenigsten nach dem Gesundheitsgehalt.

Früher haben wir die älteren Menschen immer belächelt, wenn sie uns sagten, dass „früher alles besser“ gewesen sei. Doch heute kann ich diese Generation sehr gut verstehen und diese Aussage mehr als gut nachvollziehen. Auch wenn wir und unsere Gesellschaft uns nun mal im stetigen Wandel befinden und versucht wird, einem dieses „früher war alles besser“ abzugewöhnen, merkt man an sovielen Dingen, dass man sich gern auf das Bessere zurückbesinnt. Nicht umsonst erleben Jahrzehnte wie die Neunziger irgendwann ihr Revival, nicht umsonst kommen Dinge, Produkte, Kleidung oder Musik wieder zurück und erleben einen zweiten Höhepunkt. Wäre alles wirklich so im Wandel und auf Fortschritt bedacht, wäre so etwas erst gar nicht möglich – ein Glück, für uns Kinder der Neunziger.


Von Christian Ohrens

Freier, geburtsblinder Journalist, Baujahr 1984, abgeschlossenes Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Autor, Web-, Foto- und Videoblogger, DJ und Gästeführer.

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