Es war gefühlt noch nie so leicht, sich (online) durch getane Äußerungen und Meinungen derart die virtuelle Zunge zu verbrennen, als in diesem Jahr. Und normalerweise bin ich auch in meinem privaten Blog um kein Wort verlegen, schreibe, wie und was ich denke. Aber in Zeiten der Goldwaage, wo gefühlt (der Eindruck mag ja auch täuschen) jedes Bisschen Meinung zerrissen und totargumentiert wird, fällt es auch irgendwann einem Blogger schwer, neue Anreize des Bloggens für sich zu entdecken, weiter über Themen zu schreiben, sich kritisch mit Dingen auseinanderzusetzen. Etwas, das mir vor ein paar Jahren noch sehr viel Spaß bereitete, fällt mir in diesen Zeiten schwerer denn je. Zu sagen gäbe es genug, keine Frage. Aber wenn du nur noch damit rechnen musst, irgendjemandem da draußen gehörig auf dem Schlips zu treten, überlegst du es dir inzwischen zweimal: Schreibe ich etwas oder lieber nicht?
Egal, was du als Blinder auch tust – du erntest von Seiten der Sehenden entweder absolutes Erstaunen oder aber sie empfinden das, was du machst, als selbstverständlich. Als DJ auf Partys und Feiern unterwegs zu sein, ist ein Mittelding aus beidem: Einerseits das Erstaunen über die Bewältigung der Technik, andererseits die Selbstverständlichkeit, denn Blinde machen ja alle irgendetwas mit Musik – so sagt es das immer noch vorherrschende Klischee.
Grund genug, nach über zehn Jahren aktiver DJ-Tätigkeit meine Arbeit einmal etwas Revue passieren zu lassen.
Sich Blind ins Getummel zu stürzen kann, egal ob auf Weihnachtsmarkt, Kirmes, Konzerten oder ähnlichen Veranstaltungen, manchmal doch eine wahre Herausforderung sein. Selbst sehenden Menschen ist das Gewusel und das Gedränge oftmals schon zu viel des Guten; gerade jetzt nach den diversen Corona-Lockdowns und -Beschränkungen, fühlt sich für viele der Besuch von vollen Restaurants, Konzerten oder Fußballstadien immernoch „falsch“ an.
Seit einigen Wochen sind Fans bei Fußballspielen wieder zugelassen! Zwar dürfen die Vereine, je nach geltenden Bestimmungen, ihre Stadien noch nicht vollauslasten, aber einem Besuch eines Spiels der Lieblingsmannschaft steht nichts mehr im Wege!
Und so führte mich mein Weg am vergangenen Samstag (02.10.21) in die Volkswagen-Arena, um mir – gemeinsam mit 12.844 Heim- und Gästefans – das Spiel gegen Borussia Mönchen-Gladbach anzuschauen.
Ich wollte außerdem herausfinden, ob es mir, als blinden Stadionbesucher ohne sehende Begleitung, möglich ist, das Wolfsburger Stadion ohne Probleme oder Einschränkungen zu besuchen? Wie hilfsbereit sind Fans oder Personal?
Der Besuch beim vFL Wolfsburg war jedoch nicht mein erster Stadiontest dieser Art. Bereits positive Erfahrungen konnte ich bei einem Besuch im Hamburger Volksparkstadion machen.
In einer Gruppe mit anderen ebenfalls Blinden bzw. Sehbehinderten, führte ich jüngst eine Diskussion, in der es um Lob und Anerkennung von alltäglichen Dingen aufgrund unserer Sehbehinderung ging. Sei es das Überqueren einer Straße, das sich Durchmanövrieren an engen Stellen auf dem Bürgersteig, Zug fahren, Einkaufen, das gepflegte Äußere – es gibt soviele Dinge, die für uns alltäglich, für den Mensch ohne eine Behinderung jedoch – wenn er in unserer Situation wäre – die allergrößte Herausforderung wäre. Doch dieses Lob ist es, das viele stöhrt und inzwischen sogar einen eigenen Namen bekommen hat: „Positive Diskriminierung“. Grund genug, für all die Lobenden endlich mal eine Lanze zu brechen und zudem einmal selbstkritisch zu hinterfragen, seit wann wir eigentlich so extremst dünnhäutig geworden sind?
Das Jahr ist jung, aber noch bevor wir 2021 einläuteten, warb ein bekanntes Online-Auktionshaus damit, sich von Altem zu trennen, Platz für Neues zu schaffen und Dinge zu verkaufen, was wir nicht mehr „brauchen“. Das ist zwar kein direkter Aufruf, minimalistischer zu leben, eignet sich aber hervorragend, über das genaue Gegenteil zu sprechen!
Minimalismus – ein Trend, welcher durch Personen wie Marie Kondo salonfähig geworden ist. „Manchmal ist weniger mehr“ heißt es ja auch so schön.
Dahinter steckt, sich zu überlegen, welche Dinge einem wirklich wichtig sind. Was brauchen wir wirklich, was macht uns glücklich? Diesem neuen Lifestyle-Gefühl verdanken wir es, dass wir liebgewonnene Dinge wie Bücher, CDs, Comics oder Konsolen- und Gesellschaftsspiele auf einmal als Balast empfinden. Dinge, die durchaus ihren Nutzen haben, anders vllt als leere Feuerzeuge oder Kugelschreiber.
Seit nunmehr elf Jahren bin ich als mobiler DJ aktiv und unterwegs. Ich begleitete zahlreiche Partys, Events, Hochzeiten, Geburtstage, Gartenpartys, Vereinsjubiläen, Sommerfeste und weitere Events und sorgte für die musikalische Untermalung oder für volle Tanzflächen.
Bei meiner Arbeit als DJ ist es mir stets wichtig, sowohl den Geschmack der Gäste zu treffen, als auch ein Stück weit – so es mir die Vorlieben und Vorgaben ermöglichen – auch zu experimentieren. Nicht nur die bekanntesten Lieder von Interpret XY spielen, sondern auch ein wenig abseits des Bekannten zu suchen, zu finden und vorzustellen, ist mir ein ebenso wichtiges Anliegen. Denn Popmusik ist weitaus mehr, als nur die Top 100 der angesagtesten Titel der aktuellen Woche, die im Radio größtenteils sowieso schon rauf- und runtergedudelt werden.
Doch wie weit können Experimentierfreudigkeit und der Wunsch der Masse, mit tanzbarer Musik versorgt zu werden, gehen?
Die Antwort ist – nach jetzt elfjähriger Erfahrung – zum Teil wirklich ernüchternd: Nämlich so gut wie gar nicht!
Frei nach dem Motto, „Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich“, ist die Tanzlust bei vielen bei ihnen unbekannten Titeln eher gering. Ob nun aus Gründen des Nichtgefallens oder des Nichtkennens bleibt mir als DJ in den meisten Fällen verborgen. Es sei denn, es äußert sich doch mal ein Gast zum gerade gespielten Titel und gibt mir somit einen ersten Anhaltspunkt.
Schon zu Beginn der Corona-Krise konnte man an vielen Stellen im Internet, aber auch in einschlägigen Lokalmedien lesenund hören, dass vor allem Menschen mit Behinderung besonders von der Corona-Krise und ihren Folgen betroffen seien. Dies ist sicherlich dann richtig, wenn – bedingt durch die Regelungen und Einschränkungen – der Alltag im wahrsten Sinne des Wortes „eingeschränkt“ würde, man beispielsweise nicht mehr ohne weiteres vor die Tür, zur Arbeit, zum Einkaufen oder sonst wo hinkäme.
Mit zu der Gruppierung der scheinbar stark Betroffenen gehören, mag man solch oben erwähnten Artikeln glauben, auch wir blinden bzw. hochgradig sehbehinderten Menschen. Weil wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind, weil wir mehr anfassen (müssen), als es der Otto-Normal-Bürger tut etc. Doch sind wir wirklich mehr gefährdet und haben Grund zur Sorge oder sind es wieder selbstgemachte „Probleme“, die viele von uns „jammern“ lassen?
Ganz nüchtern betrachtet, mögen viele Recht haben, wenn sie behaupten, blinde Menschen seien stärker von Einschränkung und Ausgrenzung durch die Coronapandemie betroffen. Wir können weder Abstand einschätzen, noch ihn vernünftig einhalten. Wir fassen alles mögliche an, ob Türgriff, Haltestange, Einkaufswagen, Geld, Kartenleser, Fahrstuhlknopf… bei genauerer Betrachtung dürfte jedoch auffallen, dass ein Großteil der eben genannten Dinge auch von Sehenden tagtäglich berührt wird, denn mit dem Blick allein lässt sich weder der Fahrstuhl rufen, noch die Tür öffnen oder der Einkaufswagen schieben. Und noch viele, weitere Dinge im alltäglichen Leben sind für den Sehenden nur durch bloßes Anfassen machbar; an diese denkt nur keiner mehr, es sind wir Blinden, die durch die Berührung einer Gefährdung ausgesetzt sind.
Was den Abstand anbelangt, so ist dies – wieder nüchtern betrachtet – zwar richtig, dass wir ihn weder einschätzen, noch oftmals richtig einhalten können. Aber auch hier gibt es ein großes ABER. Denn die meisten von uns sind mit Blindenstock unterwegs und haben so schon, ganz automatisch, einen Abstand zwischen sich un dder Person vor sich geschaffen. Dies sind zwar keine 1,5 Meter, aber besser, als gar nichts. Was rechts und links von einem passiert, geschweige denn wenn man den Atem desjenigen hinter sich schon im Nacken spürt, gefährdet dies uns gleich so sehr? Denn letzten Endes ist als eigentlicher „Schutz“ immer noch die Mund-Nasen-Bedeckung vorgesehen. Diese soll uns ja eben immer dann schützen, wenn es mit dem Abstand schwieriger wird bzw. werden könnte. Letztlich sind auch hier sowohl Sehende als auch Blinde gleichermaßen betroffen, denn wer es eilig hat, zur Arbeit zu kommen, wählt nun mal den vollen Bus; nicht jeder kann/darf zuhause bleiben.
Wo wir auch bei einem anderen, mehr als leidigen Thema wären: Ich selbst bin auch kein Freund der Maske, trage sie dennoch, ob nun beim Einkaufen oder im ÖPNV. Sie ist nervig, bei stickiger Luft habe auch ich manchmal das Gefühl, noch weniger luftholen zu können, aber wenn dies der zur Zeit nur mögliche Schritt ist, ein Stück weit „Alltag“ und – wie sie immer so schön genannt wird – „Normalität“ zurück zu bekommen, dann trage ich eben diesen Lappen, bevor ich deswegen gleich ganz zuhause bleibe. Viele mögen dies anders sehen. Im Internet liest man haarsträubende Kommentare, von wegen die Maske würde bei der Orientierung stören etc. Dass durch das Tragen der Maske jedoch die Brille beschlägt, habe ich von vielen, auch aus meinem Umfeld, schon gehört – scheint also doch was Wahres dran zu sein. Und wem die Maske arg zu sehr stört, der kann sich ja beim lokalen Blindenverein erkundigen, ob Menschen mit einer Behinderung im betreffenden Bundesland von der maskenpflicht ausgeschlossen sind. Ganz findige Leute gehen ja lieber gleich zum Arzt und lassen sich das nicht tragen müssen attestieren.
Was die Nutzung des ÖPNV angeht, so gehen auch hier die Meinungen entschieden auseinander. Zwischen „normalem“ Alltag und großer Angst und Unsicherheit scheint hier alles vertreten zu sein. Zwar mögen einige Bahnhöfe leerer sein als sonst, auch viele Züge sind es mit Sicherheit, aber diese geisterhafte Leere, welche zu Beginn des Lockdowns vielerorts herrschte, dürfte nur noch seltenst der Fall sein. Vor der Pandemie hätte ich auch gesagt, dass sich immer jemand findet, der einem bereitwillig weiterhelfen wird, jetzt sieht das scheinbar nicht mehr ganz so gut aus.
Aus eigener Erfahrung hier in Hamburg muss ich jedoch eines sagen: Wer Maske trägt, genießt bei vielen Mitmenschen scheinbar eine Art Vertrauensbonus. Bin ich draußen in der Stadt unterwegs, benötige einmal Hilfe, habe jedoch keine Schnodderbremse an, so geschah es nicht selten, dass ich Schwierigkeiten hatte, einen Passanten anzuhalten. Trug ich eine Maske, gingen die Leute offener und schneller auf mich zu und waren hilfsbereiter. Ein Eindruck, der täuscht und ich bin womöglich zur falschen Zeit an die falschen Leute geraten? Könnte man meinen, denn andere Blinde erzählen es fast umgekehrt, dass sie gerade jetzt mehr Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft etc. erleben. Ist Hilfsbereitschaft in Zeiten von Corona und Maske also mit regionalen Unterschieden verknüpft? Also doch ein Grund für die Maske?
Aber tatsächlich scheinen viele den Kontakt zu meiden. Jüngst auch hier in Hamburg hatte ich Schwierigkeiten, bei einer renommierten Bekleidungs-Handelskette Hilfe zu bekommen. Sie müssten den Abstand einhalten und dürften mich daher auch nur mit 1,5 M Sicherheitsabstand durch den Laden führen. Na klar, ich lasse mich, wie an einer unsichtbaren Leine gezogen, per Stimme im Slalong durch den Laden, zwischen den Kleiderständern durchlozen – mehr links, mehr rechts, mehr geradeaus, halt, zu weit, wieder zurück… Da halfen auch nicht die zitierte Führempfehlung des DBSV, hinter demjenigen zu laufen und mich mit der Hand an der Schulter zu orientieren. Eher hätte man mir angeboten, mich – ebenfalls wieder wie an der Leine – am Blindenstock zu führen. Nur dann wären wir wohl auch kaum durch die teils engen Gänge gekommen.
Not soll ja bekanntlich erfinderisch machen und – so durfte ich es mir auch schon oft anhören – man müsse dann halt nach neuen Alternativen suchen. Für vieles in unserem Alltag mag dies ja stimmen. Schlangen vorm Bäcker, die eigentlich keine mehr sind, weil alle 2 M voneinander entfernt stehen, Leute, die nicht sagen, ob und wo da überhaupt eine Schlange ist, Busse, die nur noch in der Mitte ihre Türen öffnen und und und… Hier gilt es aber nicht nur für uns, umzudenken und vielleicht einmal mehr nachzufragen. Wer nicht sagt, dass das Ende der Schlange 8 M weiter weg ist, darf sich am Ende auch nicht über den blinden Ladengast beschweren, wenn er sich – scheinbar dreist – vorgedrängelt hat. Nicht nur wir können reden, die Sehenden könnten es auch! Gleiches gilt für die Busproblematik. Natürlich könnten wir darauf bestehen, dass der Fahrer mal die Außenlautsprecher des busses einschaltet und die Linie durchsagt, wir können aber auch zur Not beharlich vorne klopfen, bis geöffnet wird, freundlich die Linie erfragen; beim nächsten Mal wird der Fahrer es besser wissen und auch machen. Wer sich beim Einkaufen nicht anfassen lassen möchte, auch nicht hinten an der Schulter, weil überängstliche Geschäftsführer es so verlangen, sollte sich (oder die Leitung) jedoch ernsthaft fragen, ob der Verkäuferjob in Zeiten von Corona überhaupt noch das „Richtige“ für ihn oder sie ist. Denn ob nun vom Kunden berührt oder selber beim Wegräumen das angefasst, was hundert Kunden zuvor schon in den Händen hielten, macht doch am Ende des Tages keinen all zu großen Unterschied.
Wir können aber auch weiter meckern und uns darüber auslassen, wie schlecht es uns zur Zeit geht, wie schwer wir es doch haben und wie stark auch – oder vor allem – uns diese Pandemie einschränkt. Alltag ist nicht einfach, weder vor noch gerade jetzt während der Einschränkungen, aber wir müssen selbigen nicht noch komplizierter machen, als eh schon geschehen. Natürlich gibt es an der einen oder anderen Stelle Dinge, die nervig sind, aber wenn ich immer wieder, auch in Artikeln, lese, wie schwer wir es doch haben und wie stark betroffen wir von Regelungen & co. doch sind, dann kriege ich – sorry – erst recht die Krise.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll… Lang habe ich überlegt, ob ich diesen Text überhaupt ins Netz stellen soll, gerade jetzt, wo (fast) jedes Bundesland ja seine Corona-Lockerungen beschlossen hat und ein Stück weit annähernde „Normalität“ in unseren Alltag zurückkehrt – soweit es nach diesem Shockdown überhaupt noch möglich ist.
Dennoch – nach über sechs Wochen tagtäglichen Corona-Berieselung auf allen Kanälen, hier ein paar kritische, teils auch durchaus sarkastische Gedanken zur ganzen Corona-Misere.
Keine Frage – die musikalische Sozialisation findet größtenteils im eigenen Elternhaus, im ersten Freundeskreis oder auch durch Medien wie das Radio statt. Ein Großteil meines Musikgeschmacks verdanke ich dem Radio, vornehmlich dem privatkommerziellen Sender FFN (früher Radio FFN), welcher bis Ende der 1990er Jahre im Abendprogramm genrespezifische Spartensendungen anbot, unter ihnen die „Grenzwellen“. Abseits des Mainstreams bot diese Sendung eine Auswahl an unterschiedlichster, elektronisch orientierter Musik und dürfte somit in der niedersächsischen Radiolandschaft der 90er Jahre ungelogen zu einem Radiophänomen zählen.
Mit der Umformatierung und Neuausrichtung des Senders wurden 1997 sämtliche Spezial- und Spartensendungen aus dem Programm gestrichen und FFN verkam somit, wie die meisten der privaten Sendeanstalten in Deutschland, zum Dudelfunk.
Im Rahmen einer Hausarbeit, welche sich mit der
Das komplette Interview könnt Ihr hier im Folgenden nachlesen. Ich habe es noch einmal überarbietet und durch viele, weiterführende Links ergänzt. Seit 2014 erleben die Grenzwellen eine Neuauflage, die Sendung ist seit April ’14 immer Mittwochs bei Radio Hannover zu hören. Grund genug, rund 13 Jahre nach dem ursprünglichen Interview mit Ecki Stieg erneut über die Themen Radio, Musikvielfalt, Streaming und natürlich auch seiner Rückkehr zum Radio und der Neuauflage der Grenzwellen zu sprechen.
Ein herzliches Dankeschön an dich, lieber Ecki, für dieses sehr persönliche, ausführliche Interview – sowohl 2007 als auch jetzt 2020.
Hinweis: Ursprüngliches Interview geführt Januar 2007; Ergänzung März 2020.
Es ist irgendwie seit einigen Monaten zum neuen Volkssport geworden: Dinge interpretieren. Egal, was man wann, wie, wo sagt oder postet, es muss erst einmal auseinandergenommen und analysiert werden.
Ob gutgemeinter Rat, schlechter Witz, ein Lob – hinter jeder Äußerung könnte sich etwas „Böses“ verstecken. Und wir neigen inzwischen dazu, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Bei manchen Menschen habe ich außerdem den Eindruck, sie suchen förmlich nach etwas, dass sie einem im Munde umdrehen oder anders auslegen können.
Die aufkeimende Diskussion um positiven Rassismus oder positiver Diskriminierung tat ihr übriges hierzu bei. Natürlich, wir leben in einer Zeit, in der wir versuchen, bewusster mit Sprache umzugehen. Doch, und dies schrieb ich auch bereits an anderen Stellen meines Blogs, kann jedoch auch dazu führen, dass wir uns sozusagen ein kommunikatives Bein stellen. „Was darf ich noch wie sagen?“, wird gern provokant von Kritikern dieser sprachlichen „Bewegung“ angeführt. Ihr Einwand ist durchaus verständlich.
Ewig alles zu hinterfragen (war es wirklich so gemeint? Muss ich zwischen den Zeilen lesen?) macht einem noch ganz kirre. Ein einfaches, ernstgemeintes Lob kann schnell zur Falltür werden, denn der Lobende könnte dem anderen ja indirekt genau das Gegenteil unterstellen (ich lobe, dass Person X gut Deutsch spricht oder ich Lobe, dass person Y trotz Behinderung ihren Alltag meistert, weil ich es mir in meiner aktuellen Situation wohl so nie zutrauen würde; dies wird jedoch verstanden als: Ich unterstelle sowohl Person X als auch Person Y, dass sie dies doch eigentlich so nicht können dürften).
Das WIE es gesagt wird, scheint dabei gerne mal unter den Tisch zu fallen. Denn kommt es nicht auch auf den Kontext an, in dem ich solch ein Lob ausspreche bzw. auf die Art und Weise (Betonung, Mimik, Gestik), anstatt sich stumpf nur auf das Gesagte zu berufen und dies zu zerhackstücken?
Im Beispiel Behinderung und Alltag wird häufig gern angeführt, dass es für uns eben ganz „normal“ ist, den Alltag zu meistern, zu reisen, einzukaufen, etc., es für uns somit keine besondere Leistung darstellt. Haben wir also Angst, der Nichtbehinderte könnte uns somit unterschwellig unterstellen, doch nichts von alledem zu können? Es bedeutet in wohl den meisten Fällen eher, dass sich der andere, wäre er oder sie in unserer Situation, selber nicht zutrauen würde – nach seinem jetzigen Wissensstand. Viele fordern bzw. wünschen sich, dass Behinderung immer mehr zum Alltag wird und viele Nichtbehinderte dies nicht mehr hinterfragen. Aber zur Integration gehört leider auch, dass wir mit solch Lob umzugehen lernen, anstatt es ewig von uns zu weisen.
Dies funktioniert auch beim Sprachenbeispiel. Unterschwellig fühlen sich viele diskriminiert, weil der Lobende indirekt unterstellt, dass Person X dies aufgrund ihrer Herkunft oder der Kürze der Zeit, in der er jetzt in Deutschland lebt (obwohl der andere gar nicht weiß, wie lang er hier lebt), doch gar nicht so gut beherrschen könne. Anders herum gibt es aber auch unter uns sehr viele, die sich mit dem Erlernen einer neuen Sprache schwertun würden, wären sie einmal in solch einer Situation, irgendwo „neu“ oder „fremd“ zu sein. Der Ausspruch „Sie können aber gut Deutsch!“ muss also auch hier keineswegs ein unterschwelliger Rassismus sein – wird aber gerne so verstanden.
Das erinnert mich alles an das gern genommene Beispiel mit dem Ausruf, es sei Grün!, bei dem manch einer gern versteht, er oder sie könne nicht richtig hingucken oder autofahren.
Wir dürfen nicht immer davon ausgehen, dass der Gesprächspartner automatisch schon alles über unseren Werdegang weiß. Nicht alles ist auch immer gleich mit böser Absicht gesagt oder gemeint – braucht man eigentlich niemandem mehr zu erklären… oder vielleicht doch? Im Zeitalter von an manchen Stellen schon an Paranoia grenzender political Correctness vergessen wir dies nämlich wohl all zu gern.